Ja, einerseits …
… galt diese Woche in Dortmund der Satz:
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Willkommen im Camp!
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Dortmund Ende Januar | Anfang Februar 2023. Temperaturen meist etwas über dem Gefrierpunkt an der Kampstraße, am Ende des Treppen-Zugangs vom Hauptbahnhof zur Einkaufsmeile am Osten- und Westenhellweg in der Dortmunder Innenstadt.
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Geschäftiges Treiben dort, besonders am Samstag,
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Das Ruhrgebiet geht einkaufen.
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Ein Teil seiner Bevölkerung zumindest.
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Menschen, die noch Geld von der Inflationswelle übrig haben.
Besserverdienende?!
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Einige ärmere Menschen haben sich mit der Bürger:innen-Initiative „Schlafen statt Strafen“ zusammengetan, um eine Woche lang mit einem Protestcamp aufmerksam zu machen:
- Auf obdachlose Menschen.
- In praktisch allen Städten des reichen Deutschlands.
- Auch im Ruhrgebiet.
- Auch in Dortmund.
- Und auf ihre zunehmende Verdrängung aus den Innenstädten.
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… andererseits hat auch Dortmund ein Problem?
Wie in vielen Städten Deutschlands kommt es offenbar auch in Dortmund „in Mode“, das Stadtbild nachhaltig zu verschönern, für eine „sauberere“ Innenstadt, für ein „sorgenfreieres Einkaufserlebnis“ – ohne ständig an die Armut anderer Menschen erinnert zu werden? – hin zu einem genussvolleren Konsumerlebnis.
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Der konsumierende Mensch ist dabei heutzutage offenbar lieber unter sich, also unter seinesgleichen. Menschen ohne überflüssiges Geld mögen sich doch bitte in die billigen Einkaufszentren der Vororte zurückziehen.
Das hat jetzt offenbar auch die Einzelhändlervereinigung „Cityring“ Dortmund erkannt, sie möchte künftig einen privaten Wachdienst engagieren (unterhalten, oder gar gründen?), der nicht erwünschte Menschen aus der Innenstadt vergrämt, verweist und wohl am besten ganz heraushält.
Obdachlose Menschen stören wohl beim „entspannten Konsumieren“, nur so könnten wir uns diese Entwicklung erklären.
Aber wir fragen uns auch: „Wem gehört die Stadt?“ – wer hat ein Recht, sich in einer Innenstadt aufzuhalten? Zu welchen Zwecken? Zu welchen Zeiten?
Und: Wer darf Menschen unter welchen Vorwänden oder nach welchen Regeln aus einem Stadtbezirk hinausweisen?
Die Bürger:innen-Initiative „Schlafen statt Strafen“ mit ihren obdach- oder wohnungslosen mitstreitenden Menschen im Protestcamp und mit ihren aktiven „Normal-Bürger:innen“ hätte darüber gerne mit Verantwortlichen von der Stadt Dortmund und vom „Cityring“ diskutiert.
Diese Diskussion konnte bisher leider nicht stattfinden, die Verantwortlichen von Stadt und Kaufmannschaft zeigten – unserer Kenntnis von Donnerstag Mittag nach – bisher kein Interesse daran.
Das finden wir schade.
Aber vielleicht entschließt sich ja doch noch ein verantwortlicher „verwaltender“ Mensch dazu, sich einer Diskussion mit „betroffenen“ Menschen und der Bürger:innen-Initiative zu stellen und beim Protestcamp vorbeizuschauen? – bis Sonntag Mittag hätte sie / er noch dazu Zeit.
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Gibt es ein „Willkommen im Camp“?
Ja, teilweise können wir aus unseren Erfahrungen und unseren Kontakten mit der Abordnung der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V. in Dortmund sagen:
Es gibt Menschen in Dortmund, die den Problemen Obdachloser nachdenklich, aufgeschlossen und manchmal auch tatkräftig (nach dem Motto „Wir müssen mehr dagegen tun in unserer Gesellschaft!“) gegenüber stehen. Die sich Sorgen um unsere Demokratie machen, die mit der wachsenden „Schere zwischen Arm und Reich“ Schaden zu nehmen droht.
Es gibt Menschen in Dortmund, die bereit sind mit Sach- und Geldspenden auszuhelfen, zumindest dabei helfen, die größte aktuelle Not etwas erträglicher zu machen.
- Das ändert aber nichts daran, dass das Leben auf der Straße eine große Zumutung ist.
- Dass längeres Leben auf der Straße das Leben eines jeden Menschen verkürzt.
- Dass die „ordnungsrechtliche Unterbringung“ in einer Massenunterkunft keine wirkliche Verbesserung im Vergleich zur „nackten“ Obdachlosigkeit darstellt.
- Dass das „Recht auf eine eigene Wohnung“ ins Grundgesetz gehört.
- Das beinhaltet damit nämlich auch das Recht auf eine Privatsphäre, ein bedingungsloses Recht, sich in seine eigene Wohnung zurückzuziehen.
- Wie wichtig es ist, das Gruppen wie die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V. sich als obdach- und wohnungslose Menschen sich selbst zu Wort melden, zum Beispiel mit ihren Positionspapieren, in denen sie ihre Vorschläge und Wünsche äußern, um ihre prekäre Situation erträglicher zu machen.
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Wo stehen wir?
Im Deutschland der Nachkriegszeit wurde die „Soziale Marktwirtschaft“ erfunden, die einer immer breiter werdenden Schicht der Bevölkerung zumindest eine gewisse Teilhabe am wachsenden Reichtum zusicherte.
Wir sind uns nicht ganz einig, wann dieses ja im Grunde recht demokratische Modell aus der Mode gekommen ist.
Die Agenda 2010 mit Einführung des „ALG II“, „HARTZ IV“ und dem Aufblühen von prekären „Arbeitsplätzen“ (die mit Minder-Löhnen – trotz Vollzeittätigkeit – zur Zahlung eines angemessenen Lebensunterhalts nicht taugten) ist sicher ein negativer Meilenstein dabei gewesen.
Danke, Gerhard und Joschka.
Beim Bürgergeld (das sich dann doch nur als „HARTZ FÜNF“ einzig mit teilweisem Inflationsausgleich entpuppt?) steht ja wohl noch eine Überarbeitung der Regelsätze an.
Wir sind gespannt, wie die in Zukunft definiert und berechnet werden sollen. Der Bevölkerungsanteil, der in Zukunft auf Bürgergeld angewiesen sein wird, dürfte mit den geburtenstarken Jahrgängen kurz vor dem Rentenalter noch deutlich anwachsen.
Eine Erinnerung an unsere Parteien: Schon heute machen Rentner:innen einen Großteil eurer Wähler:innen aus!
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Wohin sollten wir gehen?
Zurück zur Situation obdach‑, wohnungsloser und generell armer Menschen in Deutschland:
Das EU-Ziel, Wohnungslosigkeit bis 2030 abzuschaffen (als Teil des Aktionsplans zur europäischen Säule sozialer Rechte (… EN-Version) wird jedenfalls kein „Selbstläufer“ sein. Da müssen wir von allen unseren Politiker:innen Aktionen fordern, die eben nicht im Ausgrenzen und Wegsperren von „unliebsamen“ Gruppen bestehen können.
- Housing First (wie es z. Bsp. in Finnland umgesetzt wird)
- engagierte – aber sich nicht aufdrängende – aufsuchende und präventive Sozialhilfe
- sozialverträgliche Regelung des Mietenmarktes
(das darf definitiv kein Feld für profitmaximierende DAX-Konzerne sein!) - Digitale Teilhabe für ALLE Bürger:innen
(egal ob reich oder arm, ob in der Stadt oder auf dem Lande – oder obdachlos) - angemessene Besteuerung von allen Bürger:innen und allen Unternehmen – jede:r muss ihren / seinen gerechten Teil zum Erhalt der Infrastruktur leisten
- …
- … bitte um eigene gute Ideen ergänzen und zu Händen Olaf Scholz verschicken!
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Was gibt es noch zu tun?
Hier also mein persönliches Resümee meiner Erlebnisse bei meiner Beteiligung am Protestcamp „Schlafen statt Strafen“:
Ende Januar kann es auch ohne Frost verdammt kalt sein auf der Straße.
Stundenlang in der Kälte auszuharren ist kein schöner Zeitvertreib und es knabbert an der Gesundheit. (… zuerst nur zerplatzte, kaputte Lippen, schädigt es dann den Körper immer mehr. Die psychische Belastung dabei ist auch nicht zu unterschätzen – vor allem, wenn die Situation aufgezwungen ist, es also keine sportliche Aktion zur Selbsterforschung darstellt.)
Wer meint, dass obdach- und wohnungslose Menschen doch selbst an ihrer viel zu oft miserablen Lage Schuld seien, sollte einmal überlegen, wie es immer leichter wird, selbst als Normalo-Bürger:in in diese Lage zu kommen.
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Häufige Gründe für Wohnungsverlust in Deutschland
Statistiken von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe (WLH) und ihrer BundesArbeitsGemeinschaft WLH (BAG W) liefern dazu interessante Denkanstöße:
- Scheidung einer vorher „normal funktionierenden“ Familie
- Du kommst nach einem halben Jahr aus dem Gefängnis frei!
(Sorry, deine Wohnung ist dann praktisch immer weg!) - Du bist ernsthaft erkrankt, verlierst deinen Job, dann dein Konto
… zuletzt und heutzutage immer schneller auch deine Wohnung! - Du hast dich selbständig gemacht, dein Geschäftsmodell war aber finanziell ein Reinfall …
- In Inflationszeiten: Stromsperren und nicht zahlbare Nebenkostennachforderungen können schnell problematisch werden
Und schon klingt ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) – das aber so hoch sein sollte, dass jeder Mensch, allein auf Grund der ihm zugesicherten Menschenwürde, auch genug Geld zur Verfügung haben muss, damit er sich an gesellschaftlichen Aktivitäten angemessen beteiligen kann, davon also nicht ausgegrenzt wird.
Zum Nachdenken über ein BGE für alle möchten ich deshalb Olaf Scholz, Christian Lindner und vielleicht auch Friedrich Merz zurufen: Bürgergeld („HARTZ FÜNF“?) mit jetzt 502,- Euro im Monat kann das absehbar nicht leisten!
(Positionspapiere und Faktenflyer gibt es bei der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V.)
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Ich bin jedenfalls überzeugt, dass unsere Gesellschaft in Deutschland und auch in der EU mehr für die ärmeren Menschen tun muss. Die Überlegungen der EU (EN-Version) erscheinen mir ja schon einmal ein Anfang zu sein.
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Wann besuchen Sie Ihre Politikerin oder Ihren Politiker Ihres Vertrauens / Ihrer Partei, um mit ihr oder mit ihm einmal über diesen doch ziemlich wichtigen Themenbereich Sozialer Teilhabe für alle Menschen, für alle Büger:innen und alle Wähler:innen zu diskutieren?
Tun Sie das doch einfach einmal im Vorfeld der nächsten Wahl oder bei einem extra vereinbarten Gespräch!
Gelebte Demokratie kann so einfach sein?! – jedenfalls sollten wir sie gemeinsam verteidigen, denke ich.