Die Landesarmutskonferenz (LAK) Niedersachsen veranstaltete zum Weltarmutstag am 17. Oktober 2016 in Hannover eine Fachtagung zum Thema „Armut. Macht. Flucht.“, die wir neben etwa 120 anderen Teilnehmern letzten Dienstag besucht haben.
Die Veranstaltung fand im Ver.di Veranstaltungszentrum in Hannover, Goseriede 10 statt und wurde von Detlef Ahting, dem Ver.di Landesbezirksleiter Niedersachsen-Bremen, Staatssekretär Jörg Röhmanm aus dem Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung und Martin Fischer von der LAK und der Diakonie Niedersachsen eröffnet.
Wie globale Arbeit und Migration unseren Alltag verändern
Zu diesem Tagungs-Leitsatz referierte dann Jürgen Maier vom Forum Umwelt und Entwicklung aus Berlin zur Einführung. Sein Vortragstitel war schon etwas kritischer formuliert:
Globale Ungleichheit, Migration und die Produktion von Armut
Die Diskussionen zum Thema CETA und TTIP führten ihn direkt zur allgemeinen Globalisierungskritik, weil die heutige Weltwirtschaftspolitik …
- … von den falschen Leuten
- … mit den falschen Gesetzen
- … falsch gestaltet werde (also nicht im Sinne einer „Sozialen Marktwirtschaft“)
Immer mächtiger werdende Multinationale Konzerne, die nur ihrem Kostendenken verantwortlich seien stünden immer weiter entmachteten lokalen Regierungen gegenüber. Die zu beobachtende Beschäftigungsentwicklung zeige immer deutlicher eine Spaltung in „ersten“ und „zweiten“ Arbeitsmarkt bei wachsender Kluft zwischen Arm und Reich.
Die großen Parteien seien sich – im Glauben an einen alternativlosen Neoliberalismus – über die „grobe Richtung“ in der Wirtschaftspolitik offenbar einig und würden damit immer weniger unterscheidbar. Als direkte Folge sehe er die beängstigende Entwicklung einer Nichtwähler-Mentalität mit wachsender Politikverdrossenheit neben antidemokratischen Tendenzen bei einigen Parteien.
Es stelle sich die Frage, wie das abgedrängte Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung zu mobilisieren sei, auf das heute noch eher nach Bertold Brecht gelte:
„Erst kommt das Fressen, Dann die Moral !“
Es sei aber eine Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft alter Prägung nötig und es werde Zeit, die reichen Bevölkerungsschichten mehr für soziale Kosten heranzuziehen. Ein Einmischen auf allen Ebenen sei nötig unter Einbeziehung des abgehängten Drittels der Bevölkerung.
Abschließende Zuhörer-Meldungen kreisten um Hoffnungen nach den Demonstrationen zu CETA und TTIP. Diese Abkommen seien jetzt ja wohl nicht mehr wie ursprünglich geplant durchzusetzen. Daneben kamen Fragen nach Alternativen wie dem Nachhaltigkeitspapier der UN, Globaler Gerechtigkeit, Alternativen zu HARTZ-IV und verbessertem Zugang zu Bildung für benachteiligte Schichten auf.
Vier Nachmittags-Foren
Nach dem Mittagessen teilte sich die Versammlung in vier Gruppen oder Foren auf:
Forum 1: Menschenwürdige Arbeit für Alle
- Peter Waldburg, Bereichsleiter Beschäftigungsförderung in Hannover
- Anna Maria Muhi, Flüchtlingsrat Niedersachsen
- Lars Niggemeyer, LAK / DGB Niedersachsen
- Moderation: Arzu Altug, VHS Hannover
Forum 2: Gemeinsam gut wohnen
- Matthias Günther, Eduard Pestel Institut, Hannover
- Dr. Peter Szynka, ZBS Niedersachsen
- Markus Kießling, LAG Soziale Brennpunkte Niedersachsen
- Moderation: Martin Fischer, LAK / Diakonie
Forum 3: Gesundheit ohne Grenzen
- Dr. Renate Gräfin von Keller, Ärztliche Leiterin Malteser Migranten Medizin
- Werner Mannherz, Zahnmobil für Obdachlose, Bedürftige und Flüchtlinge
- Prof. Dr. med. Dipl. Soz.-päd. Gerhard Trabert,
Hochschule RheinMain, Fachbereich Sozialwesen - Moderation: Klaus-Dieter Gleitze, LAK Niedersachsen
Wir besuchten das letzte Forum:
Forum 4: Zusammenleben auf Augenhöhe
- Dr. Susanne Kannenberg, Bereichsleitung VHS Chance, VHS Hannover
- Eva Kern, amikeco-Willkommensinitiative Lüneburg
- Julius Matuschik & Sebastian Cunitz, Cameo Projekt
- Maissara Saeed, Umbaja e.V.
- Moderation: Nils Merten, Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen
„Gemeinsame Initiativen sind gefragt !“
Mit dieser Forderung stellte Nils Merten die vier Initiativen vor, die alle im Bereich Flüchtlingshilfe tätig sind und über Erfahrungen und Probleme bei ihrer Arbeit berichteten.
Dr. Susanne Kannenberg stellte die Initiative VHS Chance der Volkshochschule Hannover vor, die als kundenorientierte Bildungsberatung allen Interessenten eine individuelle Beratung zur persönlichen Weiterbildung bieten möchte. Mit mittlerweile zwei festangestellten Bildungsberatern könnten sie besonders Flüchtlingen helfen, im lokalen Bildungsangebot passende Kurse zu finden und auch bei der Finanzierung zu helfen.
Eva Kern berichtete dann von den Angeboten der Willkommensinitiative Lüneburg, die bessere Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Lüneburg schaffen möchte. Neben Kleiderkammer und Fahrradwerkstatt würden gemeinsame Aktivitäten wie z. Bsp. Gärtnern angeboten. Wichtige Bereiche seien Sprachpatenschaften, Hausaufgabenbetreuung und Beratung beim Umgang mit Behörden oder zu Problemen im Alltag. Aber auch der „Welcoming Shop“ zum zwanglosen Kennenlernen und Unterhalten werde gut angenommen.
Julius Matuschik und Sebastian Cunitz stellten dann das Cameo Projekt vor. Aus zwei „Mitleben“-Aufenthalten in Flüchtlingsheimen, die in zwei durch Crowdfunding finanzierten Fotobänden dokumentiert wurden in denen auch die betroffenen Flüchtlinge zu Wort kommen. Daraus entstanden ist das Cameo-Kollektiv mit mittlerweile 17 Beteiligten, die „Ideen realisiern wollen, die Platz für Vielfalt schaffen.“
Zuletzt berichtete dann Maissara Saeed über sein Ankommen in Deutschland nach seiner Flucht aus dem Sudan. Er hat den Verein Umbaja e.V. (die Trompete) gegründet, mit dem er anderen Flüchtlingen helfen möchte politisch aktiv zu werden und ihre Rechte als Flüchtlinge wahrzunehmen. Aus eigener Erfahrung machte er auf Probleme mit der Anerkennung seiner Ausbildungszeiten im Sudan aufmerksam, was auch viele andere Flüchtlinge betreffe. Die schwierige Ankunftszeit mit Integrationsproblemen, Probleme mit Weiterbildung und ein fehlendes Recht auf Arbeit seien wichtige Themen seines Vereins.
„The one person that will change your life – look into the mirror !“
Mit dieser Erkenntnis wolle er beim Aufbau einer „Refugee Economy“ helfen und Eigeninitiative unter Flüchtlingen stärken.
In der abschließenden Diskussionsrunde wurden als wichtigste Punkte bei der Integration der Neubürger (die Flüchtlinge ja eigentlich darstellen) Sprachvermittlung, Qualifizierung und Anleitung zur Selbsthilfe genannt. Ein Miteinander Austauschen könne ja auch als „Upgrade“ unserer Gesellschaft angesehen werden, also als eine notwendige Weiterentwicklung.
Podiumsdiskussion
Nach einer Kaffeepause gab es dann noch eine Abschlussrunde mit Podiumsdiskussion und folgenden TeilnehmerInnen:
- Renate Geuter, SPD MdL, Finanzpolitische Sprecherin
- Reinhold Hilbers, CDU MdL, Finanzpolitischer Sprecher
- Lars Niggemeier, LAK / DGB Niedersachsen
- Matthias Günther, Eduard Pestel Institut Hannover
- Moderation: Torben Hildebrandt, freier Hörfunkjournalist
Hier ging es zunächst um die Verteilung von Geldern für die Flüchtlingsversorgung. Lars Niggemeier erinnerte an Firmenerben, die heute Null Euro Erbschaftssteuer zahlen. Die kommende Schuldenbremse, Schuldenvermeidung und das Schließen von Steuerschlupflöchern waren weitere Beiträge dazu. Die Erkenntnis, dass ein Einsammeln von Geldern bei Reichen irgendwann nötig sein werde, es auf eine Verteilungsfrage hinauslaufe in Deutschland, aber auch weltweit … fand nicht bei allen Beteiligten Zuspruch.
Und als Reinhold Hilbers bemerkte, dass wir in Deutschland aber bei der Reichtumsverteilung „ganz vorne dabei“ seien im internationalen Vergleich, erntete er Unmut und Einwürfe aus dem Publikum: „In welcher Welt lebt dieser Mann ?“. Und Matthias Günther legte ihm nahe, doch einmal den aktuellen Armutsbericht zu lesen. Zugleich kam die Frage auf, warum es in Deutschland noch immer keinen Reichtumsbericht gebe. Denkwürdig in diesem Zusammenhang die Frage Reinhold Hilbers, ob das Publikum etwa dem Institut der deutschen Wirtschaft unterstelle, Zahlen zu fälschen. Angesichts des großen Gelächters muss man wohl von dieser Annahme ausgehen.
Für Renate Geuter stand jedenfalls fest, dass die Einnahmen auf vielen Ebenen verbessert werden müssen für künftige Aufgaben und Lasten.
Fragerunde und Fazit
Die Fragerunde für das Publikum ergab noch einige Anregungen:
- Wie können fehlende Qualifizierungsangebote sinnvoll ausgebaut werden ?
- Sind Abschiebungen von Flüchtlingen wirklich gut für das Land Niedersachsen ?
- Sollten Belegungsrechte bei der Wohnraumförderung zurückgekauft werden ?
Als letztes stellte Torben Hildebrandt die Abschlussfrage der Tagung:
Die Schere zwischen Arm und Reich kriegen wir zu …
- Matthias Günther:
… durch eine vernünftige Verteilungspolitik - Lars Niggemeier:
… durch Umsetzung aller LAK-Forderungen - Reinhold Hilbers:
… durch eine kluge Bildungspolitik - Renate Geuter:
… durch einen Ausgleich zwischen Arm und Reich
… indem wir Reiche mehr belasten
Zuletzt bedankte sich der Moderator bei allen Beteiligten und wünschte ein Gutes Heimkommen.
Dem können wir nicht mehr viel hinzufügen. Wir danken den Veranstaltern der Landesarmutskonferenz für die Einladung zur Tagung, bei der wir den Eindruck hatten, dass hier viele Menschen mit vernünftigen Ideen zum Ausgleich und zur Verbesserung des gemeinsamen Umgangs miteinander in unserer Gesellschaft zusammengekommen sind. Es ist jedenfalls noch viel Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, um den verschiedenen Aspekten von Armut in Deutschland eine angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.