Header - Seminarbesuch an der Universität Vechta - 16.08..2017

Fort­bil­dungs-Seminar an der Univer­sität Vechta

Seminarbesuch an der Universität Vechta
Semi­nar­be­such an der Univ. Vechta

Wieder ist ein Jahr vergangen und Frank Kruse besuchte mit einem Teil unserer Redaktion die Univer­sität Vechta, um ein Fort­bil­dungs-Seminar über Theorie und Praxis der Wohnungs­lo­sen­hilfe (WLH) abzu­halten. Als lang­jäh­riger Bereichs­leiter der Wohnungs­lo­sen­hilfe Freistatt vermit­telt er in diesen Veran­stal­tungen Einblicke in Historie, Rechts­lage und Praxis der Wohnungs­lo­sen­hilfe.

Das vier­tei­lige Seminar begann mit einer kurzen Einfüh­rungs­runde zum WarmUp in der Namen von Teil­neh­menden erfragt wurden, die jeweils eines von sechs Kriterien erfüllten, wie z.Bsp. „Wer hat einen Hund?“ oder „Wer hat einem Bettler Geld gegeben?“.

Eine erste Runde Grup­pen­ar­beit diente dann zum offenen (und kritik­losen) Sammeln von Begriffen und Thesen zu den Fragen, für die jeweils 15 Minuten zur Verfügung standen:

  • Was sind Wohnungs­lose für Menschen?
  • Warum werden Menschen wohnungslos?
  • Wie kann man Wohnungs­lo­sig­keit vermeiden?

Anschlie­ßend wurden die Stich­worte jeder Gruppe der Gesamt­runde vorge­stellt, wobei einige Gemein­sam­keiten der drei Gruppen auffielen, einige Aspekte aber auch nur einzeln notiert waren.

Seminarbesuch Universität Vechta - Stichwortsammlung Übersicht
Semi­nar­be­such Univer­sität Vechta – Übersicht der Stich­wort­samm­lung aller Gruppen
(… die Ergeb­nisse haben wir in den Bildern weiter unten doku­men­tiert.)

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Historie der Wohnungslosenhilfe

Danach erläu­terte Frank Kruse die histo­ri­sche Entwick­lung der Unter­stüt­zung benach­tei­ligter Menschen über Altertum und Mittel­alter bis zu ersten Ansätzen der Entwick­lung der Wohnungs­lo­sen­hilfe in der Neuzeit.

Ausgangs­punkt war die neue Botschaft Jesus „Gott ist für alle Menschen da!“, die im Gegensatz zur Tradition der Griechen und Römer – bei denen Verarmung in der Regel direkt zur Verskla­vung führte – von der Antike bis zum Mittel­alter langsam zu einer Entwick­lung der Armen­hilfe führte, die Bettler als Stell­ver­treter Christi auf Erden ansah.

In der Sorge um das eigene Seelen­heil waren Almosen für Arme eine Gele­gen­heit durch deren Beten für die Spender leichter in den Himmel zu gelangen. Bettel­mönche konnten sich durch Abgabe ihrer Einnahmen an ihr Kloster für ihr Alter absichern. Begüns­tigt wurde diese Entwick­lung durch das Klima-Optimum der kleinen Warmzeit bis etwa 1270.

Einige danach folgende Vulkan­aus­brüche brachten Nord­eu­ropa lang­fristig kalte und nasse Sommer mit häufigen Miss­ernten. Nach zusätz­lich auftre­tenden Pest­aus­brü­chen entlang der mittel­al­ter­li­chen Handels­routen drang die verarmte Land­be­völ­ke­rung zunehmend in die entvöl­kerten Städte. Dabei entwi­ckelte sich das „Heimat­prinzip“ für Arme, das bis in das 19. Jahr­hun­dert hinein zu Bett­ler­schüben führte, mit denen Arme in ihre Heimat­re­gion abge­schoben wurden.

In der Folgezeit entwi­ckelte sich ein Armen­recht mit Rege­lungen zu Armen­ha­ü­sern (die auf Abschre­ckung ausgelegt waren), Bettel­er­laub­nissen für „schuldlos verarmte“ Menschen und Einrich­tung von Arbeits­häu­sern, die oft als Vorläufer einer Fabrik orga­ni­siert waren. Die Erbfolge von Bauern führte zur Entwick­lung von Heuer­lingen und Köttern, die vor allem als Leinen­weber arbei­teten und später bis zu 80% der Land­be­völ­ke­rung ausmachten. Dampf­ma­schine und mecha­ni­scher Webstuhl machten diese Bevöl­ke­rungs­schicht arbeitslos und zwangen zur Abwan­de­rung in Indus­trie­ge­biete oder zu Auswan­de­rungs­wellen.

Johann Wichern ab 1833 und Adolf Kolping ab 1852 gründeten dann Häuser zur Versor­gung von Wander­ge­sellen, um sie von normalen Herbergen fern­zu­halten. 1872 wurde Friedrich von Bodel­schwingh der Ältere Leiter der 1867 gegrün­deten Evan­ge­li­schen Heil- und Pfle­ge­an­stalt für Epilep­ti­sche in Bielefeld, das spätere Bethel. Er war auch der Gründer der Arbei­ter­ko­lo­nien Wilhelms­dorfFreistatt und Lobetal, um Wander­arme von der Straße zu holen.

Mit Beginn des 20. Jahr­hun­derts wurde der Umgang mit Armen zunehmend restrik­tiver. Ludwig Mayer versuchte in einer Studie einen „Wander­trieb“ als psychi­sche Krankheit und Ursache für umher­zie­hende Wohnungs­lose zu defi­nieren. Der SA-Führer Alarich Seidler prägte dann ab 1935 als Leiter der „Bewah­rungs­an­stalt“ Herzog­säg­mühle den Begriff „Nicht­sess­hafte“, mit dem einseitig indi­vi­du­elle Defizite als Ursache für Wohnungs­lo­sig­keit ausge­macht wurden. Beide Ansätze blendeten dabei struk­tu­relle und gesell­schaft­liche Probleme voll­ständig aus und versuchten verarmte Menschen als krank abzustempeln.

Ab 1938 war dann unter dem NS-Régime das als „volks­schäd­lich“ einge­stufte Wandern verboten, bei „Auffäl­lig­keit“ drohte die Einwei­sung in Konzen­tra­ti­ons­lager. Das System der „Bewahrung“, bei der allein der Heim­leiter über Aufent­halts­dauer und Arbeits­ver­wen­dung bestimmte, endete erst 1974 mit der Reform des Bundes­So­zi­al­Hil­fe­Ge­setzes (BSHG). Dabei wurde der Begriff „Menschen in beson­deren Lebens­ver­hält­nissen mit sozialen Schwie­rig­keiten“ einge­führt. Laut BSHG zählen dazu:

  • Obdach­lo­sig­keit
  • Fehlende wirt­schaft­liche Grundlage
  • Gewalt in der Wohnung
  • Entlas­sung aus einer geschlos­senen Einrich­tung (Gefängnis oder psych­ia­tri­sche Klinik)

"Soziale Schwie­rig­keiten liegen dann vor, wenn die Person durch ausgren­zendes Verhalten an einem Leben in der Gesell­schaft gehindert ist, etwa weil sie sucht­krank ist." (BSHG-Zitat)

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Recht­liche Struktur der Wohnungs­lo­sen­hilfe und Ausblick

Seminarbesuch an der Universität Vechta - Aufstellung zur Schätzwert-Skala
Semi­nar­be­such an der Univer­sität Vechta – Aufstel­lung zur Schätzwert-Skala

Nach der Mittags­pause erläu­terte Frank Kruse dann recht­liche Aspekte im Bereich der Wohnungs­lo­sen­hilfe (WLH). Das BSHG wurde nach 1974 in das Sozi­al­Ge­setz­Buch (SGB) inte­griert und regelt den statio­nären und ambu­lanten Bereich der WLH. Dadurch ist der Perso­nen­kreis beschränkt auf „Menschen mit sozialen Schwie­rig­keiten, die sie aus eigener Kraft nicht über­winden können“.

Die Begrün­dung der vom Gesetz gefor­derten „beson­deren Lebens­ver­hält­nisse“ könne dabei das Verhältnis von Sozi­al­ar­bei­tenden und deren Klienten belasten. Die persön­li­chen und sehr unter­schied­li­chen Lebens­um­stände der Klienten würden aber auch für eine sehr abwechs­lungs­reiche Arbeit sorgen.

Vor dem Hinter­grund der Defi­ni­tion der Grenze einer „unge­si­cherten wirt­schaft­li­chen Lebens­grund­lage“ mit 10% über dem Sozi­al­hil­fe­satz falle mitt­ler­weile etwa ein sechstel der bundes­deut­schen Bevöl­ke­rung in die Gruppe poten­ti­eller Klienten der WLH. Gewalt­prä­gende Lebens­um­stände (wie z. Bsp. in Drücker­ko­lonnen oder bei Prosti­tu­ierten) und „ausgren­zendes Verhalten“ könnten weitere Risi­ko­fak­toren sein.

Insgesamt ergeben sich vorrangig folgende statis­ti­sche Gründe für Wohnungslosigkeit:

  • Jobver­lust
  • Sucht­pro­bleme
  • Über­schul­dung / Mietrückstände
  • Fehlender Zugang zu Sozi­al­leis­tungen / Unterstützungsangeboten
  • Krankheit oder Behinderung
  • Psychi­sche Probleme
  • Natur­ka­ta­stro­phen

Zuletzt brachte Frank Kruse noch einen Überblick über Risi­ko­fak­toren für drohende Wohnungs­lo­sig­keit wie z. Bsp. die allgemein stei­genden Miet­preise, finan­zi­elle Probleme, Arbeits­ver­lust, Trennung, häusliche Gewalt, Krankheit und psychi­sche Erkrankungen.

Als zweite Grup­pen­ar­beits­runde des Seminars folgte dann ein „Exper­ten­in­ter­view“ in zwei Gruppen, bei dem wir als „betrof­fene Wohnungs­lose“ den betei­ligten Studie­renden für Fragen zu unserem Weg in die Wohnungs­lo­sig­keit zur Verfügung standen. Dabei wurde deutlich, dass es sich jeweils um indi­vi­duell sehr unter­schied­liche Lebens­um­stände handelt, die zuletzt zum Wohnungs­ver­lust geführt hatten. Bei diesem Gespräch ergaben sich schon erste offen­sicht­liche Ansatz­punkte für Stra­te­gien zur Vermei­dung des Entste­hens von Wohnungs­lo­sig­keit, die in der weiteren Diskus­sion ausfor­mu­liert wurden.

Die Aufgabe der Entwick­lung eines (des?) Prototyps zur Vermei­dung bzw. zur Über­win­dung von Wohnungs­lo­sig­keit stellte sich aber als schwierig oder gar unmöglich heraus. Ein Patent­re­zept gegen Wohnungs­lo­sig­keit ist offenbar wegen der Viel­fäl­tig­keit möglicher Ursachen für einen Wohnungs­ver­lust nicht möglich. Vielmehr wurde in der abschlie­ßenden gemein­samen Diskus­sion deutlich, dass an sehr vielen Stellen Verbes­se­rungen möglich und nötig sind, um möglichst vielen von Wohnungs­lo­sig­keit bedrohten Menschen indi­vi­duell passende Hilfs­an­ge­bote anzu­bieten. Damit kamen wir direkt auf die Lösungs­an­sätze unserer ersten Grup­pen­ar­beit zurück, die schon alle wesent­li­chen Punkte beinhalteten:

  • Bezahl­baren Wohnraum schaffen und erhalten
  • Nied­rig­schwel­lige Hilfs­an­ge­bote anbieten
  • Besseren und einfa­cheren Zugang zu Hilfen gewähren
  • Statio­näre Angebote anbieten
  • Schul­den­re­gu­lie­rung / Schuld­ner­be­ra­tung verbessern
  • Sucht­be­ra­tung verbessern
  • Aufmerk­sam­keit / Acht­sam­keit sensibilisieren
  • Moti­va­ti­ons­hilfe anbieten
  • Bessere Arbeits­an­ge­bote auf dem 1. und 2. Arbeits­markt schaffen
  • Selbst­hil­fe­gruppen groß­zü­giger unterstützen
  • Bessere Schul­bil­dung / Fortbildungsmöglichkeiten
  • Sozi­al­leis­tungs­system verbessern
  • Bera­tungs­stellen verbessern
  • Bessere Infor­ma­tion über mögliche Hilfen anbieten
  • Hilfs­steuer für die Reichen 10% der Bevöl­ke­rung einführen
  • Anspruch auf Hilfen verbessern
  • Starkes soziales Netzwerk schaffen
  • Rechts­schutz / Mieter­schutz verbessern
  • Aufklä­rung über Gefahren der Wohnungslosigkeit
  • Soziale Kontakte verbessern
  • Über ein bedin­gungs­loses Grund­ein­kommen nachdenken

Die abschlie­ßende Rück­mel­de­runde „Was haben wir gelernt?“ empfanden wir als gute Bestä­ti­gung für das Konzept der Einbe­zie­hung von Betrof­fenen oder „Experten“, also Menschen mit Erfahrung von Wohnungs­lo­sig­keit, um auf dieses gesell­schaft­liche Problem aufmerksam zu machen. Alle Studie­rende bestä­tigten neue Aspekte der Wohnungs­lo­sig­keit kennen­ge­lernt zu haben, als gesell­schaft­liche Heraus­for­de­rung, aber auch als möglichen Schick­sals­schlag, der prin­zi­piell jeden Menschen viel­leicht einmal treffen könnte.

Wir denken, dass im Sinne des Projekts www.Wohnungslosentreffen.de zur „Förderung von Teilhabe und Selbst­or­ga­ni­sa­tion wohnungs­loser Menschen“ noch viele Veran­stal­tungen denkbar sind, die einen Beitrag zum Verständnis der Probleme wohnungs­loser oder vom Wohnungs­lo­sig­keit bedrohter Menschen in unserer Gesell­schaft leisten könnten.

Wir danken Frank Kruse für die Einladung zu dieser Veran­stal­tung und werden hier auch künftig über weitere solcher Veran­stal­tungen berichten.

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Stichwort-Samm­lungen

(… zurück zu Frank Kruses Vortrag zur WLH-Historie)

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Links zum Thema:

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