Wieder ist ein Jahr vergangen und Frank Kruse besuchte mit einem Teil unserer Redaktion die Universität Vechta, um ein Fortbildungs-Seminar über Theorie und Praxis der Wohnungslosenhilfe (WLH) abzuhalten. Als langjähriger Bereichsleiter der Wohnungslosenhilfe Freistatt vermittelt er in diesen Veranstaltungen Einblicke in Historie, Rechtslage und Praxis der Wohnungslosenhilfe.
Das vierteilige Seminar begann mit einer kurzen Einführungsrunde zum WarmUp in der Namen von Teilnehmenden erfragt wurden, die jeweils eines von sechs Kriterien erfüllten, wie z.Bsp. „Wer hat einen Hund?“ oder „Wer hat einem Bettler Geld gegeben?“.
Eine erste Runde Gruppenarbeit diente dann zum offenen (und kritiklosen) Sammeln von Begriffen und Thesen zu den Fragen, für die jeweils 15 Minuten zur Verfügung standen:
- Was sind Wohnungslose für Menschen?
- Warum werden Menschen wohnungslos?
- Wie kann man Wohnungslosigkeit vermeiden?
Anschließend wurden die Stichworte jeder Gruppe der Gesamtrunde vorgestellt, wobei einige Gemeinsamkeiten der drei Gruppen auffielen, einige Aspekte aber auch nur einzeln notiert waren.
Historie der Wohnungslosenhilfe
Danach erläuterte Frank Kruse die historische Entwicklung der Unterstützung benachteiligter Menschen über Altertum und Mittelalter bis zu ersten Ansätzen der Entwicklung der Wohnungslosenhilfe in der Neuzeit.
Ausgangspunkt war die neue Botschaft Jesus „Gott ist für alle Menschen da!“, die im Gegensatz zur Tradition der Griechen und Römer – bei denen Verarmung in der Regel direkt zur Versklavung führte – von der Antike bis zum Mittelalter langsam zu einer Entwicklung der Armenhilfe führte, die Bettler als Stellvertreter Christi auf Erden ansah.
In der Sorge um das eigene Seelenheil waren Almosen für Arme eine Gelegenheit durch deren Beten für die Spender leichter in den Himmel zu gelangen. Bettelmönche konnten sich durch Abgabe ihrer Einnahmen an ihr Kloster für ihr Alter absichern. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch das Klima-Optimum der kleinen Warmzeit bis etwa 1270.
Einige danach folgende Vulkanausbrüche brachten Nordeuropa langfristig kalte und nasse Sommer mit häufigen Missernten. Nach zusätzlich auftretenden Pestausbrüchen entlang der mittelalterlichen Handelsrouten drang die verarmte Landbevölkerung zunehmend in die entvölkerten Städte. Dabei entwickelte sich das „Heimatprinzip“ für Arme, das bis in das 19. Jahrhundert hinein zu Bettlerschüben führte, mit denen Arme in ihre Heimatregion abgeschoben wurden.
In der Folgezeit entwickelte sich ein Armenrecht mit Regelungen zu Armenhaüsern (die auf Abschreckung ausgelegt waren), Bettelerlaubnissen für „schuldlos verarmte“ Menschen und Einrichtung von Arbeitshäusern, die oft als Vorläufer einer Fabrik organisiert waren. Die Erbfolge von Bauern führte zur Entwicklung von Heuerlingen und Köttern, die vor allem als Leinenweber arbeiteten und später bis zu 80% der Landbevölkerung ausmachten. Dampfmaschine und mechanischer Webstuhl machten diese Bevölkerungsschicht arbeitslos und zwangen zur Abwanderung in Industriegebiete oder zu Auswanderungswellen.
Johann Wichern ab 1833 und Adolf Kolping ab 1852 gründeten dann Häuser zur Versorgung von Wandergesellen, um sie von normalen Herbergen fernzuhalten. 1872 wurde Friedrich von Bodelschwingh der Ältere Leiter der 1867 gegründeten Evangelischen Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische in Bielefeld, das spätere Bethel. Er war auch der Gründer der Arbeiterkolonien Wilhelmsdorf, Freistatt und Lobetal, um Wanderarme von der Straße zu holen.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Umgang mit Armen zunehmend restriktiver. Ludwig Mayer versuchte in einer Studie einen „Wandertrieb“ als psychische Krankheit und Ursache für umherziehende Wohnungslose zu definieren. Der SA-Führer Alarich Seidler prägte dann ab 1935 als Leiter der „Bewahrungsanstalt“ Herzogsägmühle den Begriff „Nichtsesshafte“, mit dem einseitig individuelle Defizite als Ursache für Wohnungslosigkeit ausgemacht wurden. Beide Ansätze blendeten dabei strukturelle und gesellschaftliche Probleme vollständig aus und versuchten verarmte Menschen als krank abzustempeln.
Ab 1938 war dann unter dem NS-Régime das als „volksschädlich“ eingestufte Wandern verboten, bei „Auffälligkeit“ drohte die Einweisung in Konzentrationslager. Das System der „Bewahrung“, bei der allein der Heimleiter über Aufenthaltsdauer und Arbeitsverwendung bestimmte, endete erst 1974 mit der Reform des BundesSozialHilfeGesetzes (BSHG). Dabei wurde der Begriff „Menschen in besonderen Lebensverhältnissen mit sozialen Schwierigkeiten“ eingeführt. Laut BSHG zählen dazu:
- Obdachlosigkeit
- Fehlende wirtschaftliche Grundlage
- Gewalt in der Wohnung
- Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung (Gefängnis oder psychiatrische Klinik)
"Soziale Schwierigkeiten liegen dann vor, wenn die Person durch ausgrenzendes Verhalten an einem Leben in der Gesellschaft gehindert ist, etwa weil sie suchtkrank ist." (BSHG-Zitat)
Rechtliche Struktur der Wohnungslosenhilfe und Ausblick
Nach der Mittagspause erläuterte Frank Kruse dann rechtliche Aspekte im Bereich der Wohnungslosenhilfe (WLH). Das BSHG wurde nach 1974 in das SozialGesetzBuch (SGB) integriert und regelt den stationären und ambulanten Bereich der WLH. Dadurch ist der Personenkreis beschränkt auf „Menschen mit sozialen Schwierigkeiten, die sie aus eigener Kraft nicht überwinden können“.
Die Begründung der vom Gesetz geforderten „besonderen Lebensverhältnisse“ könne dabei das Verhältnis von Sozialarbeitenden und deren Klienten belasten. Die persönlichen und sehr unterschiedlichen Lebensumstände der Klienten würden aber auch für eine sehr abwechslungsreiche Arbeit sorgen.
Vor dem Hintergrund der Definition der Grenze einer „ungesicherten wirtschaftlichen Lebensgrundlage“ mit 10% über dem Sozialhilfesatz falle mittlerweile etwa ein sechstel der bundesdeutschen Bevölkerung in die Gruppe potentieller Klienten der WLH. Gewaltprägende Lebensumstände (wie z. Bsp. in Drückerkolonnen oder bei Prostituierten) und „ausgrenzendes Verhalten“ könnten weitere Risikofaktoren sein.
Insgesamt ergeben sich vorrangig folgende statistische Gründe für Wohnungslosigkeit:
- Jobverlust
- Suchtprobleme
- Überschuldung / Mietrückstände
- Fehlender Zugang zu Sozialleistungen / Unterstützungsangeboten
- Krankheit oder Behinderung
- Psychische Probleme
- Naturkatastrophen
Zuletzt brachte Frank Kruse noch einen Überblick über Risikofaktoren für drohende Wohnungslosigkeit wie z. Bsp. die allgemein steigenden Mietpreise, finanzielle Probleme, Arbeitsverlust, Trennung, häusliche Gewalt, Krankheit und psychische Erkrankungen.
Als zweite Gruppenarbeitsrunde des Seminars folgte dann ein „Experteninterview“ in zwei Gruppen, bei dem wir als „betroffene Wohnungslose“ den beteiligten Studierenden für Fragen zu unserem Weg in die Wohnungslosigkeit zur Verfügung standen. Dabei wurde deutlich, dass es sich jeweils um individuell sehr unterschiedliche Lebensumstände handelt, die zuletzt zum Wohnungsverlust geführt hatten. Bei diesem Gespräch ergaben sich schon erste offensichtliche Ansatzpunkte für Strategien zur Vermeidung des Entstehens von Wohnungslosigkeit, die in der weiteren Diskussion ausformuliert wurden.
Die Aufgabe der Entwicklung eines (des?) Prototyps zur Vermeidung bzw. zur Überwindung von Wohnungslosigkeit stellte sich aber als schwierig oder gar unmöglich heraus. Ein Patentrezept gegen Wohnungslosigkeit ist offenbar wegen der Vielfältigkeit möglicher Ursachen für einen Wohnungsverlust nicht möglich. Vielmehr wurde in der abschließenden gemeinsamen Diskussion deutlich, dass an sehr vielen Stellen Verbesserungen möglich und nötig sind, um möglichst vielen von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen individuell passende Hilfsangebote anzubieten. Damit kamen wir direkt auf die Lösungsansätze unserer ersten Gruppenarbeit zurück, die schon alle wesentlichen Punkte beinhalteten:
- Bezahlbaren Wohnraum schaffen und erhalten
- Niedrigschwellige Hilfsangebote anbieten
- Besseren und einfacheren Zugang zu Hilfen gewähren
- Stationäre Angebote anbieten
- Schuldenregulierung / Schuldnerberatung verbessern
- Suchtberatung verbessern
- Aufmerksamkeit / Achtsamkeit sensibilisieren
- Motivationshilfe anbieten
- Bessere Arbeitsangebote auf dem 1. und 2. Arbeitsmarkt schaffen
- Selbsthilfegruppen großzügiger unterstützen
- Bessere Schulbildung / Fortbildungsmöglichkeiten
- Sozialleistungssystem verbessern
- Beratungsstellen verbessern
- Bessere Information über mögliche Hilfen anbieten
- Hilfssteuer für die Reichen 10% der Bevölkerung einführen
- Anspruch auf Hilfen verbessern
- Starkes soziales Netzwerk schaffen
- Rechtsschutz / Mieterschutz verbessern
- Aufklärung über Gefahren der Wohnungslosigkeit
- Soziale Kontakte verbessern
- Über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachdenken
Die abschließende Rückmelderunde „Was haben wir gelernt?“ empfanden wir als gute Bestätigung für das Konzept der Einbeziehung von Betroffenen oder „Experten“, also Menschen mit Erfahrung von Wohnungslosigkeit, um auf dieses gesellschaftliche Problem aufmerksam zu machen. Alle Studierende bestätigten neue Aspekte der Wohnungslosigkeit kennengelernt zu haben, als gesellschaftliche Herausforderung, aber auch als möglichen Schicksalsschlag, der prinzipiell jeden Menschen vielleicht einmal treffen könnte.
Wir denken, dass im Sinne des Projekts www.Wohnungslosentreffen.de zur „Förderung von Teilhabe und Selbstorganisation wohnungsloser Menschen“ noch viele Veranstaltungen denkbar sind, die einen Beitrag zum Verständnis der Probleme wohnungsloser oder vom Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen in unserer Gesellschaft leisten könnten.
Wir danken Frank Kruse für die Einladung zu dieser Veranstaltung und werden hier auch künftig über weitere solcher Veranstaltungen berichten.
Stichwort-Sammlungen
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Links zum Thema:
- Jubiläum Tagestreff Oase Northeim / Ausstellung und Vortrag zur Historie der Wohnungslosenhilfe, Kreissparkasse Northeim, alt.wohnungslos.info
(ausführlicherer Vortrag nach Frank Kruse zur Historie der Wohnungslosenhilfe) - Dissertation „Auf dem Weg zum ewigen Wanderer? – Wohnungslose und ihre Institutionen“ von Liane Alexandra Schenk, FU Berlin, 26. 02. 2004
- Angebote der Wohnungslosenhilfe Freistatt – www.Bethel-im-Norden.de