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Der Armuts­kon­gress 2019 – Die Bedeutung liegt in der Zukunft

Armut lässt sich nicht skan­da­li­sieren – Armut ist der Skandal“. Als Dr. Ulrich Schneider diese Worte lautstark im Hörsaal des Langen­beck-Virchow-Hauses aussprach, bedankten sich hunderte Zuhörer mit einem tosenden Beifall. Man hatte ein wenig den Eindruck, als habe der Geschäfts­führer des Pari­tä­ti­schen Wohl­fahrts­ver­bandes ein neues Zitat zur Welt gebracht. Der Vortrag von Dr. Schneider war der eigent­liche Schluss­ak­kord. Hinter den Verant­wort­li­chen, Teil­neh­mern und Gästen lagen zwei Tage voller Arbeit. Auf dem Armuts­kon­gress 2019, der am 10. und 11. April 2019 in der Bundes­haupt­stadt stattfand, bewegten sich alle Anwe­senden zwischen realis­ti­scher Gegenwart und unge­wisser Zukunft.

Über das Zitat des Geschäfts­füh­rers kann man nach­denken, man kann es zudem für weitere Veran­stal­tungen sicher­lich gut verwenden. Dem Zitat kann man aber getrost die Frage hinzu­fügen, ob da noch was fehlt. Denn während des Kongresses kam öfter zum Ausdruck, dass nicht nur dieser Umgang mit Armut – insbe­son­dere der Umgang der Politik mit Armut – immer weitere skan­da­lö­sere Formen annimmt. Aber brachte der Kongress neue Ziele, neue Heraus­for­de­rungen, ja, viel­leicht sogar Lösungen?

Für alle Veran­stal­tungen, die während der zwei Tage im Hörsaal statt­fanden, fungierten mit Claudia Brüning­haus und Pitt von Bebenburg als Mode­ra­toren der Veran­stal­tung. Schon zum Auftakt an Tag 1 warfen sie Fragen auf, wer arme Menschen in diesem Land sind? Und stellten direkt fest, dass insbe­son­dere Immi­granten, Kinder, Kranke und Arbeits­lose von der Armut betroffen sind. Das darunter Arbeits­lose sind, mag zunächst nicht über­ra­schen – oder doch? Claudia Brüning­haus verweist auf den aktuellen Armuts­be­richt, und dort sind sehr viele betrof­fene Arbeit­nehmer von der Armut betroffen. Das bedeutet, das noch, bevor der eigent­liche Kongress startete, den meisten im Saal die Schief­lage des Landes bewusst wurde.

Baustelle Deutsch­land“ – mit diesem Kurzfilm bekamen die Zuschauer einen Eindruck von den Schwie­rig­keiten der von Armut betrof­fenen Berliner, und ihrem Leben am Rande der pulsie­renden Metropole, aber auch ein Beispiel geboten, wie wichtig es ist, trotz der eigenen prekären Lage sich stets zu enga­gieren. Eine Akti­visten sowie eine junge Mutter erzählten vom täglichen Kampf, mit ganz wenig über die Runden zu kommen.

Der anschlie­ßende Vortrag des Jour­na­listen Prof. Dr. jur. Heribert Prantl trug laut Programm den Titel "Baustelle Deutsch­land. Soli­da­risch anpacken." Der Publizist und Buchautor fing nicht nur an auszu­pa­cken, sondern vor allem ordent­lich auszu­teilen. So verglich er den Umgang mit dem Begriff Demo­kratie mit einer Fried­hofs­urne: Im Unter­schied zu dem Utensil für Gräber erin­nerten Politiker vor Wahltagen gerne an demo­kra­ti­sche Rechte der Menschen, mit denen sie den Begriff für eine Kurze Zeit wieder­be­leben würden. Gerade wenige Wochen vor dem 70. Geburtstag der Bundes­re­pu­blik werde hier­zu­lande die Demo­kratie nicht nur gefeiert, an ihr werde vor allem permanent gefeilt. Aber wie?

Demo­kratie sei aber auch ein Grund­prinzip. Es dürfe laut Verfas­sung hier­zu­lande nicht zu Ausgren­zung kommen. Das eigene Geld müsse für mehr als das „Über die Runden kommen“ reichen und die eigene Brief­ta­sche müsse die Chance auf eine soziale Teilhabe beinhalten. Aber wie sehe es laut Prantl in der Wirk­lich­keit aus? Bei 6 Millionen Menschen, die Arbeits­lo­sen­geld II bezögen, verwende der Volksmund schon mal den Ausdruck „sozi­al­schwach“. Der Jour­na­list hielt dagegen und nannte den Begriff eine Belei­di­gung. HARTZ-IV-Bezieher seien nicht „sozi­al­schwach“, erst recht nicht schwach – sie seien vor allem eines: Arm.

Der Professor holte weiter aus. Aus dem Armuts­be­richt ginge hervor, dass 2017 rund 420.000 ALG-II-Bezieher vom Jobcenter sank­tio­niert worden seien. In der Arbeits­markt­po­litik hätten Elemente Einzug gehalten, die „krimi­nelle Eigen­schaften“ beinhal­teten. Sank­tionen forcierten Armut, sie erhöhten das Risiko der Wohnungs­lo­sig­keit und brächten für die Betrof­fenen zusätz­liche Probleme: Sie erhöhten bei manch einem die krimi­nelle Energie. Sowohl der Hartz-IV-Bezug, aber erst recht die Sank­tionen würden voll­kommen die eigent­liche Lebens­leis­tung der Betrof­fenen miss­achten. Der Staat habe dabei die Wehrlosen soweit in der Hand, um sie sinnlose Arbeiten erledigen zu lassen und um diese Bürger quasi zum Untertan zu machen. Mit der Frage: „Haben sich vor allem die Politiker unseres Landes das Jubiläum zum 70. Geburtstag etwa so vorge­stellt?“ kam Professor Prantl zu seinem Resümee: „Statt in einem rüstigen Staat im Renten­alter bewegen wir uns in einem an vielen Stellen gebro­chenen Land.“

Laut dem Leiter des Meinungs-Ressorts der Süddeut­schen Zeitung haben sich das vor allem Politiker rechts­po­pu­lis­ti­scher Absichten dahin­ge­hend gewünscht, um die aktuelle Situation am Arbeits- und Wohnungs­markt für sich zu nutzen, um mit primi­tiven und dümm­li­chen und vor allem mit menschen­ver­ach­tenden Parolen auf Stim­men­fang zu gehen. Prantl erhofft sich auch deshalb eine spürbare Verän­de­rung am Wohnungs­markt, die mitt­ler­weile Miet­preise anbieten, die man wegen ihrer Höhe früher Brot­preise genannt hat.

Vertreter und Vertre­te­rinnen von Orga­ni­sa­tionen, die wesent­li­chen Anteil an der Planung des Armuts­kon­gresses hatten, nahmen zur anschlie­ßenden Diskus­sion auf dem Podium Platz. Annelie Bunten­bach vom Deutschen Gewerk­schafts­bund forderte dabei einen deutlich höheren Mindest­lohn, da es nicht sein darf, dass Menschen trotz eigener Arbeit von Armut betroffen sind. Sie prangerte zudem die Jobcenter an, die ihren Kunden mit schlecht bezahlten Jobs bzw. Minijobs erpressbar machten. „Unser Sozi­al­staat ist das beste Mittel gegen Arbeit – aber nur, wenn es funk­tio­niert!“ Für diese sehr direkte Aussage erhielt Prof. Dr. Rolf Roden­stock vom Pari­tä­ti­schen Gesamt­ver­band verdienten Applaus. Er erhofft sich soziale Verän­de­rungen und Bewe­gungen; sie erhöhen auch den Druck auf den Erhalt unserer demo­kra­ti­schen Grundwerte.

Die Armut in Deutsch­land ist ein Teufels­kreis. Jedes Jahr werden mitt­ler­weile 150.000 neue Wohnungen zusätz­lich gebraucht!“ Diese düstere Erkenntnis teilte Werena Rosenke als Vertre­terin der Natio­nalen Armuts­kon­fe­renz (NAK) dem Publikum mit. Werena Rosenke sieht mit der Proble­matik der zu hohen Mieten in Deutsch­land auch ein Gesund­heits­pro­blem, da 120.000 sich keine eigene Kran­ken­ver­si­che­rung leisten können. "Es darf nicht sein, das Gesund­heit eine Sache des Geld­beu­tels ist", so die Geschäfts­füh­rerin der Bundes­ar­beits­ge­mein­schaft Wohnungs­lo­sen­hilfe e. V. Aller­dings sprach die sehr enga­gierte Frau Rosenke irrtüm­lich  davon das „Wohnen“ ein Menschen­recht sei. War es ein Verspre­cher? Wenn ja, hätte sie die Formu­lie­rung „Wohnung ist ein Menschen­recht“ rich­ti­ger­weise benutzt!

Heribert Prantl, der nach seinem Vorwort ebenfalls an der Diskus­sion teilnahm, fürchtet sich eher vor der vermeint­li­chen Erkenntnis „da kann man eh nichts machen“. Diese Haltung könne jeden Einzelnen noch tiefer in Depres­sionen reißen. Daher sei Wider­stand so wichtig. Da die Armuts­lage bekannt­lich auch nicht vor der Alten­pflege halt mache, wünschte er sich, dass Bewohner von Senio­ren­heimen flächen­de­ckend für eine bessere Versor­gung demons­trieren sollten – und notfalls auch mit Schau­kel­stühlen oder Rolla­toren die Auto­bahnen blockieren sollten.

Armut ist nicht nur ein bundes­weites Problem. Laut der Vorsit­zenden der Partei DIE LINKE, Katja Kipping seien innerhalb der EU 120 Millionen Menschen davon betroffen, darunter befänden sich 7%, die unter großen Entbeh­rungen leiden würden. Bei der anschlies­senden Podi­ums­dis­kus­sion erklärte die Poli­ti­kerin zudem, sich stark zu machen für ein von sozialen Mindest­stan­dards befreites Europa. Innerhalb der EU brauche es Bewe­gungen von allen Seiten; und Bewe­gungen seien notwendig, insbe­son­dere beim Aufbau einer Politik, die sich gegen den seit über 10 Jahren wütenden „Mieten­wahn­sinn“ richten müsse. Die Notwen­dig­keit einer funk­tio­nie­renden Euro­päi­schen Union erklärte die Parla­men­ta­ri­sche Staats­se­kre­tärin, Anette Kramme. Sie betonte die Erfolge innerhalb der Gleich­stel­lung sowie die Fort­schritte bei der Bekämp­fung von Diskri­mi­nie­rung.

Aller­dings freut sich die SPD-Bundes­mi­nis­terin auch über die Unter­stüt­zung durch den Euro­päi­schen Stabi­li­täts­me­cha­nismus (ESM), sowie über die Schaffung des Mindest­lohns. Anette Kramme verschwieg jedoch die immer noch vorhan­denen Probleme für die Bezieher dieser Leis­tungen. Ob Mindest­lohn oder vor allem die Nutz­nießer durch den ESM, oftmals müssen diese Menschen immer noch durch amtliche Hilfe das Porte­mon­naie nach­füllen lassen. Für das zweite Halbjahr im Jahr 2020 hat sich Frau Kramme viel vorge­nommen. In dieser Phase, in der Deutsch­land für 6 Monate den Vorsitz im Rat der Euro­päi­schen Union hat, will sie mit ihrer Partei für alle EU-Staaten einen Mindest­rahmen für Mindest­löhne setzen. Zudem setzt sie sich  für eine Forcie­rung der Digi­ta­li­sie­rung innerhalb des Staa­ten­bünd­nisses ein. Während­dessen oder unmit­telbar danach stehen die Sozi­al­de­mo­kraten, wenn der Wahlkampf 2021 seine Schatten wirft, ange­sichts der Wahl­er­geb­nisse der beiden letzten Bundes­tags­wahlen ganz schön in der Bringschuld.

Ganz andere Befürch­tungen für Europa sieht Terry Reintke. Die Poli­ti­kerin von Bündnis 90/Die Grünen unter­stellt vielen ihrer Kollegen das Verbreiten von Lügen was den Umgang des mögli­cher­weise bevor­ste­henden Brexits bevor­steht. Sie erhofft sich von den Verant­wort­li­chen innerhalb der EU einen Plan zu entwi­ckeln, um Groß­bri­tan­nien genau von diesem Schritt doch noch abzu­bringen, da sie ansonsten ein Ausein­an­der­bre­chens des Bünd­nisses sieht. Auch sie plane bereits für die zweite Jahres­hälfte 2020, da die rund 500 Millionen EU-Bürger klare Vorschläge erwarten. Dazu zählt aber auch das Durch­setzen einer wesent­lich höheren Grund­si­che­rung. Terry Reintke sieht sämtliche Vertreter demo­kra­ti­scher Parteien in der Pflicht sich ange­sichts der Euro­pa­wahl 2019 stark zu posi­tio­nieren, da die kommende Besetzung in Straßburg von großer Bedeutung wird.

Im Schnitt gehen etwa 55% des durch­schnitt­li­chen Monats­ein­kom­mens für die Miete drauf“ – zu dieser These kam Andrej Holm bei der Durch­sicht der statis­ti­schen Erhe­bungen. Es war nicht das einzige Mal, dass der Sozi­al­wis­sen­schaftler während seines Vortrags depri­mie­rendes mitteilte. Das ganz normale Wohnen in der eigenen Wohnung ist hier­zu­lande mitt­ler­weile zu einem Konflikt zwischen dem Mieter und Immo­bi­li­en­ver­tre­tern geworden. Gerade Inves­toren halten den Wohnungsbau im sozialen Sektor für nicht attraktiv. Genauso behan­delten sie das Geld des Staates, das Ihnen zum Wohnungsbau einst zur Verfügung gestellt wurde. Von den 20 Milli­arden Euro flossen gerade mal 2% in den Sozialen Wohnungsbau.

Holm fügte weiter an, das die Betrof­fenen ihre Ansprüche nicht zu redu­zieren brauchen, denn der Staat verfügt über das Geld, um bezahl­baren Wohnraum zu schaffen und zu unter­stützen. Das Problem, eine bezahl­bare Wohnung zu finden, haben nicht nur Wohnungs­lose bzw. von Armut betrof­fene Menschen. In Univer­si­täts­städten exis­tieren große Warte­listen, Haushalte mit Medi­an­ein­kommen kommen gerade so über die Runden. Erschüt­ternd auch sein Beispiel, wie unter­schied­lich jemanden etwas zusteht. So verfügt im Schnitt ein Allei­er­zie­hender mit einem Kind über 1.332,- Euro im Monat, während bei gleicher Miethöhe einem Ehepaar ohne Kinder, bei der beide eine Stellung als Lehrer haben, ein gemein­sames Haus­halts­geld von 4.414,- Euro zur Verfügung steht – also mehr als dreimal so viel. Ein kinder­freund­li­ches Land sieht bei vielen ganz sicher anders aus.

In der anschlie­ßenden Podi­ums­runde, bei der Andrej Holm auch teilnahm, stärkte er den Zuhörern dahin­ge­hend den Rücken, um sich an Unter­schrift­ak­tionen zu betei­ligen, und dafür zu sorgen, das Volks­be­gehren mehr und mehr ins Licht zu rücken. Für die Proble­matik mit dem aktuellen Miet­spiegel sei einzig die Politik zuständig und verant­wort­lich. Deut­li­cher wurde hingegen Verena Bentele. Die Präsi­dentin des Sozi­al­ver­bandes VdK und ehemalige Biath­letin bemerkte, es fehle nicht an Ideen; diese nicht umzu­setzen liege alleine an einer „beschis­senen Poltik“, so Bentele wörtlich. Dabei lägen konkrete Vorschläge für verbind­liche Quoten vor, wie etwa der Bau von barrie­re­freien Wohnungen für Mieter mit körper­li­chen Einschrän­kungen. Sie würde am liebsten den Verant­wort­li­chen in der Regierung mal das Rechnen beibringen, wie man Ausgaben für Wohngeld besser in Wohnungsbau inves­tieren müsse.

Menschen ohne Geld können keine Wohnung finden, sie benötigen eine ganz andere gezielte Unter­stüt­zung mit Chancen.“ Sabine Bösing von der BAG Wohnungs­lo­sen­hilfe war in ihren Ausfüh­rungen mindes­tens genauso präzise. Sie empfindet den Begriff „Wohn­fä­hig­keit“ als diskri­mi­nie­rend. Grund­sätz­lich sei jeder Mensch fähig, in einer eigenen Wohnung zu wohnen. Sie fordert zudem Fach­stellen, die sich für den Fall eines drohenden Wohnungs­ver­lusts engagieren.

Florian Moritz vom Deutschen Gewerk­schafts­bund berich­tete von den zuneh­menden Schwie­rig­keiten, die selbst durch­schnitt­liche Normal­ver­diener haben, um ihre Wohnung zu halten. Das Problem betreffe mitt­ler­weile jede deutsche Großstadt. Steigende Tarif­löhne brächten den Mietern überhaupt nichts ein, wenn die Miet­preise im selben Zeitraum um ein Viel­fa­ches steigen würden. Vieler­orts hätten sich auch die Arbeits­be­din­gungen verschlech­tert, was den um die Existenz Kämp­fenden in ihrer Lebens­si­tua­tion dann noch härter treffe.

Über die Zahl der Jugend­li­chen, die auf der Straße leben, konnte André Neupert keine konkrete Angaben machen, weil hierfür keine offi­zi­elle Statistik geführt werde. Daneben fehle es an der Unter­stüt­zung durch die Politik, die Hilfen für die Heran­wach­senden indi­vi­duell zu gestalten. Oftmals seien die Teenager durch ihr vorhe­riges Leben trau­ma­ti­siert, sei es durch Gewalt in der Familie, Armut, Arbeits­lo­sig­keit oder gar sexuellen Über­griffe. Dadurch blieben viele jugend­liche Obdach­lose unbetreut und damit auch nur schwer in Wohnungen zu vermitteln.

Ein Impuls­forum hatte ursprüng­lich u. a. die Absicht, in kleinen Runden Ansätze zu disku­tieren, wie Gering­ver­die­nende oder prekär Beschäf­tigte HARTZ-IV-Bezug vermeiden bzw. den Bezug über­winden könnten. So erklärte Martin Künkler vom Deutschen Gewerk­schafts­ver­bund, das „nur ein Teil“ der sechs Millionen „falsch abge­si­chert“ sei, unter ihnen auch die rund 570.000 sozi­al­ver­si­che­rungs­pflich­tigen Aufsto­cker, die trotz Beschäf­ti­gung Hilfe bean­spru­chen müssten. Eine Chance zum Ausstieg sieht der Gewerk­schaftler darin, die Ausbil­dungs­för­de­rungen von 600.000 Arbeitern auf das Exis­tenz­mi­nimum anzuheben.

Aller­dings habe er auch nicht die Absicht, das jetzige ALG-II komplett zu beenden; er plane lediglich, es zu ersetzen. Von seinen Absichten würde vorder­gründig zunächst einmal der Arbeit­nehmer profi­tieren, deren Mindest­lohn er exis­tenz­si­chernd erhöhen möchte. Bei diesen Modellen war aller­dings nicht ersicht­lich, wie die künftige Teilnahme von Betrof­fenen zur sozialen Teilhabe funk­tio­nieren solle. Dagegen schienen die Bezieher von Kinder­geld lediglich nur sehr großzügig von einer Erhöhung zu profi­tieren. Andere Worte hingegen fand dagegen Wiebke Rockhoff vom Berlin-Bran­den­bur­gi­schen diako­ni­schen Werk ange­sichts der aktuellen Armutssituation.

Sie sprach klar aus, dass die derzei­tige Arbeits­markt­po­litik überhaupt nicht funk­tio­niert. Viel zu wenig enga­gieren sich die Verant­wort­li­chen in den Kommunen in der beruf­li­chen Weiter­bil­dung oder in der Digi­ta­li­sie­rung am Arbeits­markt. Sie fordert ganz konse­quent eine große Quali­fi­ka­ti­ons­of­fen­sive sowie Moti­va­ti­ons­prä­mien sowohl für Mitar­beiter der Jobcenter als auch für Arbeits­su­chende im Erfolgsfalle.

Der abschlie­ßende Vortrag von Dr. Ulrich Schneider begann, so wie es der Haupt­ge­schäfts­führer des Pari­tä­ti­schen Gesamt­ver­bands geplant hatte, mit nüch­ternen Zahlen. Diese besagen, so der Sozi­al­funk­tionär, dass im Verhältnis der aktuellen Arbeits­lo­sen­quote die Mieten sogar niedrig seien. Diese Fakten, so Dr. Schneider, seien notwendig um eine Kampf­an­sage zu schüren. Denn die realis­ti­schen Fakten besagen auch, das Deutsch­land über die höchste Kinder­armut, die höchste Armut überhaupt sowie die höchste Pfle­ge­be­dürf­tig­keit seit 1990 verfügt. Dieser Kongress brachte für ihn die Erkennt­nisse, in Zukunft drei Themen mit der nötigen Wucht an die poli­ti­sche Agenda zu richten. Das gilt für die Über­win­dung von Hartz IV, eine gerech­tere und effek­ti­vere Politik im Bereich der Pflege sowie eine komplett verän­derte Wohnungs­po­litik. Dafür brauche es den Druck der Betroffenen.

Im Unter­schied zu früheren Armuts­kon­gressen hat sich auch die Haltung der Betrof­fenen komplett geändert. Sie denken radikaler und geben nicht mehr klein bei. Es reiche nicht aus, die Sank­ti­ons­po­litik im Hartz-IV abzu­schaffen, das Arbeits­lo­sen­geld II als solches gehöre beendet. Diese Arbeits­markt­po­litik habe den Betrof­fenen viel an Unge­rech­tig­keiten und Diskri­mi­nie­rungen einge­bracht. So wurden Leis­tungs­be­zieher einfach als Drücke­berger und Faulpelze bezeichnet. Dr. Schneider sei bei diesem Armuts­kon­gress positiv darüber über­rascht, wie engagiert sich Betrof­fene zeigen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen.

Die Menschen, so Dr. Schneider, haben die Märchen und Lügen von soge­nannten neoli­be­ralen Mächten satt. Die Betrof­fenen haben erkannt, dass in diesem Land nur minimalst bekämpft wird. Der Geschäfts­führer fordert daher ein System, in dem Armut erst gar nicht entsteht. Die einzige Partei, die sich dass zum Falschen nutzen macht, ist ausge­rechnet jene, die Ausgren­zung und Diskri­mi­nie­rung im Programm hat. Ausge­rechnet die ködert Wähler, die selbiges mitunter des Öfteren genau das bereits erleben mussten. Das würde zu dem Sinnbild der entspre­chenden Partei passen, die die „Blau­äu­gig­keit“ von Depri­mierten ausnutzt.

Um Europa politisch nicht in die komplett falsche Richtung zu lenken, rief er zur Teilnahme an der Groß-Demons­tra­tion „Ein Europa für Alle – Deine Stimme gegen Natio­na­lismus!“  am 19. Mai 2019 auf. Exakt eine Woche vor den Wahlen zum Euro­päi­schen Parlament findet in sieben deutschen Städten eine Mobil­ma­chung gegen rechte Tendenzen in Europa statt. Diese Wahlen seien rich­tungs­wei­send, daher solle man Rechts­extreme und Rassisten vorher verweisen.

Bleibt eigent­lich nur noch die Frage offen, welche Fragen beim Berliner Armuts­kon­gress geklärt werden konnten? Zumindest konnten die einge­la­denen Betrof­fenen mit der Erkenntnis den Heimweg antreten, dass mitt­ler­weile viel mehr über die Probleme in unserem Land Bescheid wissen. Sie wissen nicht nur Bescheid, sie wissen sehr oft auch, was falsch läuft. Zusam­men­fas­send ließe sich das so formu­lieren; es fehlt an bezahl­barem Wohnraum und die Inves­to­ren­po­litik am Wohnungs­markt gehört auf den poli­ti­schen Prüfstand. Und die Menschen brauchen Geld. Zum einen verdientes Geld, zum anderen Geld, um am Leben in der Gesell­schaft teilzunehmen.

Und die Politik selbst? Wenn man sich bei Verant­wort­li­chen umgehört hat, so hat sie in den letzten Jahren sehr viel für die Armut getan – vor allem, um sie weiter ansteigen zu lassen. Doch finden sie auch die Mittel gegen die Armut? Sie muss, denn sonst schadet sie dem ganzen Land.

Armut lässt sich nicht skan­da­li­sieren – Armut ist der Skandal“. Allen voran der Umgang damit. Die Zukunft wird zeigen, ob dieser Armuts­kon­gress mehr als nur ein Finger­zeig war.

Abordnung der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen (SWM) - Treppenaufgang Erfurt - März 2019
Abordnung der Selbst­ver­tre­tung wohnungs­loser Menschen (SWM) – Trep­pen­auf­gang Erfurt – März 2019