„Armut lässt sich nicht skandalisieren – Armut ist der Skandal“. Als Dr. Ulrich Schneider diese Worte lautstark im Hörsaal des Langenbeck-Virchow-Hauses aussprach, bedankten sich hunderte Zuhörer mit einem tosenden Beifall. Man hatte ein wenig den Eindruck, als habe der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ein neues Zitat zur Welt gebracht. Der Vortrag von Dr. Schneider war der eigentliche Schlussakkord. Hinter den Verantwortlichen, Teilnehmern und Gästen lagen zwei Tage voller Arbeit. Auf dem Armutskongress 2019, der am 10. und 11. April 2019 in der Bundeshauptstadt stattfand, bewegten sich alle Anwesenden zwischen realistischer Gegenwart und ungewisser Zukunft.
Über das Zitat des Geschäftsführers kann man nachdenken, man kann es zudem für weitere Veranstaltungen sicherlich gut verwenden. Dem Zitat kann man aber getrost die Frage hinzufügen, ob da noch was fehlt. Denn während des Kongresses kam öfter zum Ausdruck, dass nicht nur dieser Umgang mit Armut – insbesondere der Umgang der Politik mit Armut – immer weitere skandalösere Formen annimmt. Aber brachte der Kongress neue Ziele, neue Herausforderungen, ja, vielleicht sogar Lösungen?
Für alle Veranstaltungen, die während der zwei Tage im Hörsaal stattfanden, fungierten mit Claudia Brüninghaus und Pitt von Bebenburg als Moderatoren der Veranstaltung. Schon zum Auftakt an Tag 1 warfen sie Fragen auf, wer arme Menschen in diesem Land sind? Und stellten direkt fest, dass insbesondere Immigranten, Kinder, Kranke und Arbeitslose von der Armut betroffen sind. Das darunter Arbeitslose sind, mag zunächst nicht überraschen – oder doch? Claudia Brüninghaus verweist auf den aktuellen Armutsbericht, und dort sind sehr viele betroffene Arbeitnehmer von der Armut betroffen. Das bedeutet, das noch, bevor der eigentliche Kongress startete, den meisten im Saal die Schieflage des Landes bewusst wurde.
„Baustelle Deutschland“ – mit diesem Kurzfilm bekamen die Zuschauer einen Eindruck von den Schwierigkeiten der von Armut betroffenen Berliner, und ihrem Leben am Rande der pulsierenden Metropole, aber auch ein Beispiel geboten, wie wichtig es ist, trotz der eigenen prekären Lage sich stets zu engagieren. Eine Aktivisten sowie eine junge Mutter erzählten vom täglichen Kampf, mit ganz wenig über die Runden zu kommen.
Der anschließende Vortrag des Journalisten Prof. Dr. jur. Heribert Prantl trug laut Programm den Titel "Baustelle Deutschland. Solidarisch anpacken." Der Publizist und Buchautor fing nicht nur an auszupacken, sondern vor allem ordentlich auszuteilen. So verglich er den Umgang mit dem Begriff Demokratie mit einer Friedhofsurne: Im Unterschied zu dem Utensil für Gräber erinnerten Politiker vor Wahltagen gerne an demokratische Rechte der Menschen, mit denen sie den Begriff für eine Kurze Zeit wiederbeleben würden. Gerade wenige Wochen vor dem 70. Geburtstag der Bundesrepublik werde hierzulande die Demokratie nicht nur gefeiert, an ihr werde vor allem permanent gefeilt. Aber wie?
Demokratie sei aber auch ein Grundprinzip. Es dürfe laut Verfassung hierzulande nicht zu Ausgrenzung kommen. Das eigene Geld müsse für mehr als das „Über die Runden kommen“ reichen und die eigene Brieftasche müsse die Chance auf eine soziale Teilhabe beinhalten. Aber wie sehe es laut Prantl in der Wirklichkeit aus? Bei 6 Millionen Menschen, die Arbeitslosengeld II bezögen, verwende der Volksmund schon mal den Ausdruck „sozialschwach“. Der Journalist hielt dagegen und nannte den Begriff eine Beleidigung. HARTZ-IV-Bezieher seien nicht „sozialschwach“, erst recht nicht schwach – sie seien vor allem eines: Arm.
Der Professor holte weiter aus. Aus dem Armutsbericht ginge hervor, dass 2017 rund 420.000 ALG-II-Bezieher vom Jobcenter sanktioniert worden seien. In der Arbeitsmarktpolitik hätten Elemente Einzug gehalten, die „kriminelle Eigenschaften“ beinhalteten. Sanktionen forcierten Armut, sie erhöhten das Risiko der Wohnungslosigkeit und brächten für die Betroffenen zusätzliche Probleme: Sie erhöhten bei manch einem die kriminelle Energie. Sowohl der Hartz-IV-Bezug, aber erst recht die Sanktionen würden vollkommen die eigentliche Lebensleistung der Betroffenen missachten. Der Staat habe dabei die Wehrlosen soweit in der Hand, um sie sinnlose Arbeiten erledigen zu lassen und um diese Bürger quasi zum Untertan zu machen. Mit der Frage: „Haben sich vor allem die Politiker unseres Landes das Jubiläum zum 70. Geburtstag etwa so vorgestellt?“ kam Professor Prantl zu seinem Resümee: „Statt in einem rüstigen Staat im Rentenalter bewegen wir uns in einem an vielen Stellen gebrochenen Land.“
Laut dem Leiter des Meinungs-Ressorts der Süddeutschen Zeitung haben sich das vor allem Politiker rechtspopulistischer Absichten dahingehend gewünscht, um die aktuelle Situation am Arbeits- und Wohnungsmarkt für sich zu nutzen, um mit primitiven und dümmlichen und vor allem mit menschenverachtenden Parolen auf Stimmenfang zu gehen. Prantl erhofft sich auch deshalb eine spürbare Veränderung am Wohnungsmarkt, die mittlerweile Mietpreise anbieten, die man wegen ihrer Höhe früher Brotpreise genannt hat.
Vertreter und Vertreterinnen von Organisationen, die wesentlichen Anteil an der Planung des Armutskongresses hatten, nahmen zur anschließenden Diskussion auf dem Podium Platz. Annelie Buntenbach vom Deutschen Gewerkschaftsbund forderte dabei einen deutlich höheren Mindestlohn, da es nicht sein darf, dass Menschen trotz eigener Arbeit von Armut betroffen sind. Sie prangerte zudem die Jobcenter an, die ihren Kunden mit schlecht bezahlten Jobs bzw. Minijobs erpressbar machten. „Unser Sozialstaat ist das beste Mittel gegen Arbeit – aber nur, wenn es funktioniert!“ Für diese sehr direkte Aussage erhielt Prof. Dr. Rolf Rodenstock vom Paritätischen Gesamtverband verdienten Applaus. Er erhofft sich soziale Veränderungen und Bewegungen; sie erhöhen auch den Druck auf den Erhalt unserer demokratischen Grundwerte.
„Die Armut in Deutschland ist ein Teufelskreis. Jedes Jahr werden mittlerweile 150.000 neue Wohnungen zusätzlich gebraucht!“ Diese düstere Erkenntnis teilte Werena Rosenke als Vertreterin der Nationalen Armutskonferenz (NAK) dem Publikum mit. Werena Rosenke sieht mit der Problematik der zu hohen Mieten in Deutschland auch ein Gesundheitsproblem, da 120.000 sich keine eigene Krankenversicherung leisten können. "Es darf nicht sein, das Gesundheit eine Sache des Geldbeutels ist", so die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. Allerdings sprach die sehr engagierte Frau Rosenke irrtümlich davon das „Wohnen“ ein Menschenrecht sei. War es ein Versprecher? Wenn ja, hätte sie die Formulierung „Wohnung ist ein Menschenrecht“ richtigerweise benutzt!
Heribert Prantl, der nach seinem Vorwort ebenfalls an der Diskussion teilnahm, fürchtet sich eher vor der vermeintlichen Erkenntnis „da kann man eh nichts machen“. Diese Haltung könne jeden Einzelnen noch tiefer in Depressionen reißen. Daher sei Widerstand so wichtig. Da die Armutslage bekanntlich auch nicht vor der Altenpflege halt mache, wünschte er sich, dass Bewohner von Seniorenheimen flächendeckend für eine bessere Versorgung demonstrieren sollten – und notfalls auch mit Schaukelstühlen oder Rollatoren die Autobahnen blockieren sollten.
Armut ist nicht nur ein bundesweites Problem. Laut der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Katja Kipping seien innerhalb der EU 120 Millionen Menschen davon betroffen, darunter befänden sich 7%, die unter großen Entbehrungen leiden würden. Bei der anschliessenden Podiumsdiskussion erklärte die Politikerin zudem, sich stark zu machen für ein von sozialen Mindeststandards befreites Europa. Innerhalb der EU brauche es Bewegungen von allen Seiten; und Bewegungen seien notwendig, insbesondere beim Aufbau einer Politik, die sich gegen den seit über 10 Jahren wütenden „Mietenwahnsinn“ richten müsse. Die Notwendigkeit einer funktionierenden Europäischen Union erklärte die Parlamentarische Staatssekretärin, Anette Kramme. Sie betonte die Erfolge innerhalb der Gleichstellung sowie die Fortschritte bei der Bekämpfung von Diskriminierung.
Allerdings freut sich die SPD-Bundesministerin auch über die Unterstützung durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), sowie über die Schaffung des Mindestlohns. Anette Kramme verschwieg jedoch die immer noch vorhandenen Probleme für die Bezieher dieser Leistungen. Ob Mindestlohn oder vor allem die Nutznießer durch den ESM, oftmals müssen diese Menschen immer noch durch amtliche Hilfe das Portemonnaie nachfüllen lassen. Für das zweite Halbjahr im Jahr 2020 hat sich Frau Kramme viel vorgenommen. In dieser Phase, in der Deutschland für 6 Monate den Vorsitz im Rat der Europäischen Union hat, will sie mit ihrer Partei für alle EU-Staaten einen Mindestrahmen für Mindestlöhne setzen. Zudem setzt sie sich für eine Forcierung der Digitalisierung innerhalb des Staatenbündnisses ein. Währenddessen oder unmittelbar danach stehen die Sozialdemokraten, wenn der Wahlkampf 2021 seine Schatten wirft, angesichts der Wahlergebnisse der beiden letzten Bundestagswahlen ganz schön in der Bringschuld.
Ganz andere Befürchtungen für Europa sieht Terry Reintke. Die Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen unterstellt vielen ihrer Kollegen das Verbreiten von Lügen was den Umgang des möglicherweise bevorstehenden Brexits bevorsteht. Sie erhofft sich von den Verantwortlichen innerhalb der EU einen Plan zu entwickeln, um Großbritannien genau von diesem Schritt doch noch abzubringen, da sie ansonsten ein Auseinanderbrechens des Bündnisses sieht. Auch sie plane bereits für die zweite Jahreshälfte 2020, da die rund 500 Millionen EU-Bürger klare Vorschläge erwarten. Dazu zählt aber auch das Durchsetzen einer wesentlich höheren Grundsicherung. Terry Reintke sieht sämtliche Vertreter demokratischer Parteien in der Pflicht sich angesichts der Europawahl 2019 stark zu positionieren, da die kommende Besetzung in Straßburg von großer Bedeutung wird.
„Im Schnitt gehen etwa 55% des durchschnittlichen Monatseinkommens für die Miete drauf“ – zu dieser These kam Andrej Holm bei der Durchsicht der statistischen Erhebungen. Es war nicht das einzige Mal, dass der Sozialwissenschaftler während seines Vortrags deprimierendes mitteilte. Das ganz normale Wohnen in der eigenen Wohnung ist hierzulande mittlerweile zu einem Konflikt zwischen dem Mieter und Immobilienvertretern geworden. Gerade Investoren halten den Wohnungsbau im sozialen Sektor für nicht attraktiv. Genauso behandelten sie das Geld des Staates, das Ihnen zum Wohnungsbau einst zur Verfügung gestellt wurde. Von den 20 Milliarden Euro flossen gerade mal 2% in den Sozialen Wohnungsbau.
Holm fügte weiter an, das die Betroffenen ihre Ansprüche nicht zu reduzieren brauchen, denn der Staat verfügt über das Geld, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und zu unterstützen. Das Problem, eine bezahlbare Wohnung zu finden, haben nicht nur Wohnungslose bzw. von Armut betroffene Menschen. In Universitätsstädten existieren große Wartelisten, Haushalte mit Medianeinkommen kommen gerade so über die Runden. Erschütternd auch sein Beispiel, wie unterschiedlich jemanden etwas zusteht. So verfügt im Schnitt ein Alleierziehender mit einem Kind über 1.332,- Euro im Monat, während bei gleicher Miethöhe einem Ehepaar ohne Kinder, bei der beide eine Stellung als Lehrer haben, ein gemeinsames Haushaltsgeld von 4.414,- Euro zur Verfügung steht – also mehr als dreimal so viel. Ein kinderfreundliches Land sieht bei vielen ganz sicher anders aus.
In der anschließenden Podiumsrunde, bei der Andrej Holm auch teilnahm, stärkte er den Zuhörern dahingehend den Rücken, um sich an Unterschriftaktionen zu beteiligen, und dafür zu sorgen, das Volksbegehren mehr und mehr ins Licht zu rücken. Für die Problematik mit dem aktuellen Mietspiegel sei einzig die Politik zuständig und verantwortlich. Deutlicher wurde hingegen Verena Bentele. Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK und ehemalige Biathletin bemerkte, es fehle nicht an Ideen; diese nicht umzusetzen liege alleine an einer „beschissenen Poltik“, so Bentele wörtlich. Dabei lägen konkrete Vorschläge für verbindliche Quoten vor, wie etwa der Bau von barrierefreien Wohnungen für Mieter mit körperlichen Einschränkungen. Sie würde am liebsten den Verantwortlichen in der Regierung mal das Rechnen beibringen, wie man Ausgaben für Wohngeld besser in Wohnungsbau investieren müsse.
„Menschen ohne Geld können keine Wohnung finden, sie benötigen eine ganz andere gezielte Unterstützung mit Chancen.“ Sabine Bösing von der BAG Wohnungslosenhilfe war in ihren Ausführungen mindestens genauso präzise. Sie empfindet den Begriff „Wohnfähigkeit“ als diskriminierend. Grundsätzlich sei jeder Mensch fähig, in einer eigenen Wohnung zu wohnen. Sie fordert zudem Fachstellen, die sich für den Fall eines drohenden Wohnungsverlusts engagieren.
Florian Moritz vom Deutschen Gewerkschaftsbund berichtete von den zunehmenden Schwierigkeiten, die selbst durchschnittliche Normalverdiener haben, um ihre Wohnung zu halten. Das Problem betreffe mittlerweile jede deutsche Großstadt. Steigende Tariflöhne brächten den Mietern überhaupt nichts ein, wenn die Mietpreise im selben Zeitraum um ein Vielfaches steigen würden. Vielerorts hätten sich auch die Arbeitsbedingungen verschlechtert, was den um die Existenz Kämpfenden in ihrer Lebenssituation dann noch härter treffe.
Über die Zahl der Jugendlichen, die auf der Straße leben, konnte André Neupert keine konkrete Angaben machen, weil hierfür keine offizielle Statistik geführt werde. Daneben fehle es an der Unterstützung durch die Politik, die Hilfen für die Heranwachsenden individuell zu gestalten. Oftmals seien die Teenager durch ihr vorheriges Leben traumatisiert, sei es durch Gewalt in der Familie, Armut, Arbeitslosigkeit oder gar sexuellen Übergriffe. Dadurch blieben viele jugendliche Obdachlose unbetreut und damit auch nur schwer in Wohnungen zu vermitteln.
Ein Impulsforum hatte ursprünglich u. a. die Absicht, in kleinen Runden Ansätze zu diskutieren, wie Geringverdienende oder prekär Beschäftigte HARTZ-IV-Bezug vermeiden bzw. den Bezug überwinden könnten. So erklärte Martin Künkler vom Deutschen Gewerkschaftsverbund, das „nur ein Teil“ der sechs Millionen „falsch abgesichert“ sei, unter ihnen auch die rund 570.000 sozialversicherungspflichtigen Aufstocker, die trotz Beschäftigung Hilfe beanspruchen müssten. Eine Chance zum Ausstieg sieht der Gewerkschaftler darin, die Ausbildungsförderungen von 600.000 Arbeitern auf das Existenzminimum anzuheben.
Allerdings habe er auch nicht die Absicht, das jetzige ALG-II komplett zu beenden; er plane lediglich, es zu ersetzen. Von seinen Absichten würde vordergründig zunächst einmal der Arbeitnehmer profitieren, deren Mindestlohn er existenzsichernd erhöhen möchte. Bei diesen Modellen war allerdings nicht ersichtlich, wie die künftige Teilnahme von Betroffenen zur sozialen Teilhabe funktionieren solle. Dagegen schienen die Bezieher von Kindergeld lediglich nur sehr großzügig von einer Erhöhung zu profitieren. Andere Worte hingegen fand dagegen Wiebke Rockhoff vom Berlin-Brandenburgischen diakonischen Werk angesichts der aktuellen Armutssituation.
Sie sprach klar aus, dass die derzeitige Arbeitsmarktpolitik überhaupt nicht funktioniert. Viel zu wenig engagieren sich die Verantwortlichen in den Kommunen in der beruflichen Weiterbildung oder in der Digitalisierung am Arbeitsmarkt. Sie fordert ganz konsequent eine große Qualifikationsoffensive sowie Motivationsprämien sowohl für Mitarbeiter der Jobcenter als auch für Arbeitssuchende im Erfolgsfalle.
Der abschließende Vortrag von Dr. Ulrich Schneider begann, so wie es der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands geplant hatte, mit nüchternen Zahlen. Diese besagen, so der Sozialfunktionär, dass im Verhältnis der aktuellen Arbeitslosenquote die Mieten sogar niedrig seien. Diese Fakten, so Dr. Schneider, seien notwendig um eine Kampfansage zu schüren. Denn die realistischen Fakten besagen auch, das Deutschland über die höchste Kinderarmut, die höchste Armut überhaupt sowie die höchste Pflegebedürftigkeit seit 1990 verfügt. Dieser Kongress brachte für ihn die Erkenntnisse, in Zukunft drei Themen mit der nötigen Wucht an die politische Agenda zu richten. Das gilt für die Überwindung von Hartz IV, eine gerechtere und effektivere Politik im Bereich der Pflege sowie eine komplett veränderte Wohnungspolitik. Dafür brauche es den Druck der Betroffenen.
Im Unterschied zu früheren Armutskongressen hat sich auch die Haltung der Betroffenen komplett geändert. Sie denken radikaler und geben nicht mehr klein bei. Es reiche nicht aus, die Sanktionspolitik im Hartz-IV abzuschaffen, das Arbeitslosengeld II als solches gehöre beendet. Diese Arbeitsmarktpolitik habe den Betroffenen viel an Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen eingebracht. So wurden Leistungsbezieher einfach als Drückeberger und Faulpelze bezeichnet. Dr. Schneider sei bei diesem Armutskongress positiv darüber überrascht, wie engagiert sich Betroffene zeigen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen.
Die Menschen, so Dr. Schneider, haben die Märchen und Lügen von sogenannten neoliberalen Mächten satt. Die Betroffenen haben erkannt, dass in diesem Land nur minimalst bekämpft wird. Der Geschäftsführer fordert daher ein System, in dem Armut erst gar nicht entsteht. Die einzige Partei, die sich dass zum Falschen nutzen macht, ist ausgerechnet jene, die Ausgrenzung und Diskriminierung im Programm hat. Ausgerechnet die ködert Wähler, die selbiges mitunter des Öfteren genau das bereits erleben mussten. Das würde zu dem Sinnbild der entsprechenden Partei passen, die die „Blauäugigkeit“ von Deprimierten ausnutzt.
Um Europa politisch nicht in die komplett falsche Richtung zu lenken, rief er zur Teilnahme an der Groß-Demonstration „Ein Europa für Alle – Deine Stimme gegen Nationalismus!“ am 19. Mai 2019 auf. Exakt eine Woche vor den Wahlen zum Europäischen Parlament findet in sieben deutschen Städten eine Mobilmachung gegen rechte Tendenzen in Europa statt. Diese Wahlen seien richtungsweisend, daher solle man Rechtsextreme und Rassisten vorher verweisen.
Bleibt eigentlich nur noch die Frage offen, welche Fragen beim Berliner Armutskongress geklärt werden konnten? Zumindest konnten die eingeladenen Betroffenen mit der Erkenntnis den Heimweg antreten, dass mittlerweile viel mehr über die Probleme in unserem Land Bescheid wissen. Sie wissen nicht nur Bescheid, sie wissen sehr oft auch, was falsch läuft. Zusammenfassend ließe sich das so formulieren; es fehlt an bezahlbarem Wohnraum und die Investorenpolitik am Wohnungsmarkt gehört auf den politischen Prüfstand. Und die Menschen brauchen Geld. Zum einen verdientes Geld, zum anderen Geld, um am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen.
Und die Politik selbst? Wenn man sich bei Verantwortlichen umgehört hat, so hat sie in den letzten Jahren sehr viel für die Armut getan – vor allem, um sie weiter ansteigen zu lassen. Doch finden sie auch die Mittel gegen die Armut? Sie muss, denn sonst schadet sie dem ganzen Land.
„Armut lässt sich nicht skandalisieren – Armut ist der Skandal“. Allen voran der Umgang damit. Die Zukunft wird zeigen, ob dieser Armutskongress mehr als nur ein Fingerzeig war.