„Herr Scheele, fehlt es Ihnen an Aufmerksamkeit?“
Oder warum provozieren Sie rund fünfeinhalb Millionen Menschen in diesem Land heraus? Die Zahl derer, die sich durch diese Äußerungen auf den Schlips getreten fühlen, dürfte um einiges höher sein. Denn auch Menschen, deren geringer Verdienst gerade mal reicht, um über die Runden zu kommen, verpassen Sie mit Ihren Ansichten eine schallende Ohrfeige."
Am Wochenende wurde Detlef Scheele, seit 2015 Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, von aktiencheck.de zitiert. In der Nacht zum Sonntag wurde daraus eine mehr als befremdliche Stellungnahme veröffentlicht. Laut dem gebürtigen Hamburger ist nicht nur der Bezug von Arbeitslosengeld II (ALG II) eine „großzügige Regelung“. Herr Scheele zeigte sich offenbar auch positiv bestätigt, dass trotz der Krise durch die Corona-Pandemie „Hartz-IV“-Empfänger auch wieder sanktioniert werden dürfen.
Der SPD-Politiker unterstreicht mit weiteren Äußerungen, wie sehr er die Nähe zur Basis offenbar verloren hat. So erkennt Scheele zwar richtigerweise, dass Menschen mit geringem Einkommen die Grundsicherung durch ihre Steuern finanzieren. Umgekehrt lässt der BA-Chef unerwähnt, dass die Kassiererin mit dem geringen Verdienst ebenfalls viel zu wenig Lohn für ihre Mühen erhält. Oder hat es der Sozialdemokrat versäumt, in seine Überlegungen einzubeziehen, dass nicht die „Hartz-IV“-Höhe, sondern viel mehr die Löhne und Gehälter der Geringverdiener das eigentliche Problem sind?
Neben der erwähnten Kassiererin fällt uns auch der Frisör, der Gebäudereiniger, die Stewardess, der Kellner usw. ein, die ihre harte Arbeit auf der Lohnabrechnung zum Muster ohne Wert werden lassen.
Als „völligen Blödsinn“ – so wird Scheele zitiert – bezeichnet der BA-Chef die mögliche Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE). Mit der Formulierung „Wer 1.000 Euro im Monat erhalte und keiner Arbeit nachgehe – da wüsste ich gerne, was aus den Menschen wird“ unterstreicht der Hanseate, wie wenig er den Menschen zutraut, die mit einem Grundeinkommen ihr Leben ohne Verpflichtung zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit organisieren könnten.
Es mangelt ihn an der Phantasie, dass mehr Euros im Portemonnaie vielleicht auch die allgemeine Kaufkraft ankurbeln könnte und dass der Binnenmarkt und der Arbeitsmarkt davon profitieren könnten. Auch, dass durch das BGE – oder dass ebenfalls von einigen Politikern angedachte Bürgergeld – das jetzige ALG II / „HARTZ IV“ ersetzen würde, und der Steuerzahler die derzeitig immensen Verwaltungskosten nicht mehr mittragen müsste, fanden in seinen Berechnungen wohl keinen Platz.
Detlev Scheele hat aus unserer Sicht jeglichen respektvollen Umgang mit Empfängern und „Aufstockern“ vermissen lassen. Der BA-Chef hat dabei übersehen, dass diejenigen, die es trifft, sich schon seit Jahren an den Wahlurnen zu wehren wissen, und der SPD immer mehr ihre Zustimmung zu dieser diskriminierenden Politik verweigern.
Es waren in den Jahren 2002 und 2003 die Koalition von SPD und GRÜNEN unter der Führung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die diese „Arbeitsmarktreform“ als Teil der Agenda 2010 auf den Weg brachten – die im Nachhinein betrachtet nur zu berechtigt – fast nur von DEN LINKEN und Gewerkschaften vehement kritisiert und bekämpft wurde.
Es war der misslungene Versuch einer „Reform“, der bis heute dazu geführt hat, dass etwa 25% aller Arbeitnehmer in Deutschland zu Niedriglöhnen beschäftigt werden, diese Regelungen also für mindestens 6 Millionen Deutsche zur Armutsfalle wurden. Es ist die „Reform“, die bis zu 10 Milliarden Euro jährlich an Aufstockungs-Leistungen für Arbeitnehmer erfordert, die von ihrem viel zu geringen Arbeitslohn nicht leben können. Dabei sind die zu erwartenden steigenden Zahlen durch die Corona-Krise hier noch gar nicht genau bekannt.
Herr Scheele, probieren Sie es doch einige Monate lang einmal aus, nur von der Grundsicherung zu leben.
Oder wäre Ihnen solch eine Selbstversuch zu basisnah?
Mit der Behauptung, bei Hartz-IV handelt es sich um eine „großzügige Regelung“, verspielen Sie jegliches Vertrauen der Leistungsbezieher und erschweren den Jobcentern und ihren Mitarbeitern ihre Arbeit mit noch unzufriedeneren „Kunden“.
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Verwendete Fotos:
- Titelbild: Zerknitterte Euro-Scheine mit Diakonie-Slogan „Unerhört, die da oben.“
– © (Diakonie) / Christian Wiediger / unsplash.com - Detlef Scheele auf dem WDR Integrationsgipfel 2016
– © Raimond Spekking / Wikimedia Commons (CC-by-SA‑4.0) - Zwei Stewardessen – © Naitian (Tony) Wang / unsplash.com
- Haircut #1 – © Taylor Smith / unsplash.com
- Cheap Haircut #2 – © LOGAN WEAVER / unsplash.com
- Haircut #3 – © Victória Kubiaki / unsplash.com
- Haircut #4 – © Wesley Mc Lachlan / unsplash.com
- BGE mit 1.000 Euro? – © Lena Balk / unsplash.com