Neun Uhr morgens auf der Bremer Bürgerweide hinter dem Hauptbahnhof. Etwa drei Dutzend Menschen haben sich vor der Halle 7 der MESSE BREMEN versammelt. Hier tagt die Bremische Bürgerschaft, denn das Haus der Bürgerschaft am Bremer Marktplatz wird derzeit saniert. Die meisten Demonstranten stehen in kleinen Gruppen zusammen und unterhalten sich. Andere verteilen Protestschilder und rollen lange Banner auf. Im Hintergrund ragen indianische Totempfähle und ein Riesenrad in den wolkengrauen Himmel. Fahrgeschäfte für den "Freipaak". Das ist der kleine Bruder des echten Freimarkts. Dieses Jahr stark verkleinert und mit strengen Auflagen versehen, um in den Zeiten der Pandemie zu funktionieren. So sollte sichergestellt werden, dass für Schausteller und Besucher wenigstens ein bisschen Normalität erhalten bleibt. Und dass ausreichend Geld die Besitzer wechselt. Denn viele Akteure der Vergnügungsbranche stehen kurz vor dem finanziellen Kollaps. Später am Tag wurde dann bekanntgegeben, dass der Freipaak aufgrund der wieder steigenden Infektionszahlen geschlossen werden muss. Wohl keine große Überraschung, für niemanden mehr.
Es ist 2020 und alles ist Corona.
Nicht nur bei denjenigen, die vom Vergnügen anderer Leute leben, herrschen Wut, Verzweiflung und Ratlosigkeit angesichts der schier unglaublichen Auswirkungen der Krankheit. Corona wütet scheinbar gnadenlos und alle anderen Themen werden in den Hintergrund geschoben. Der chinesische Virus dominiert den Globus, beschädigt Marktwirtschaften und vernichtet zahllose Existenzen. Etabliert Unsicherheit und Angst als Lebensgefühl. Wie der internationale Terror. Wie die globale Erwärmung. Mit dem Unterschied, dass es diesmal jeden von uns sofort und konkret betrifft. Für etwas anderes ist kaum noch Platz, vor allem in den Hauptmedien nicht.
Hinter den Kulissen
Die Demonstranten, die sich hier versammelt haben, sind alle in der Veranstaltungsbranche tätig, dem sechstgrößten Wirtschaftszweig in Deutschland. Eine Sammlung von Berufsfeldern, denen im normalen Alltag wenig Beachtung geschenkt wird. Man beklatscht die Künstler auf der Bühne, was hinter dem Vorhang passiert, ist für die meisten eher uninteressant. Es ist gleichwohl eine Branche, die seit Jahren boomt. Der deutsche Primus hat seinen Sitz in Bremen. CTS Eventim verkauft pro Jahr insgesamt rund 250 Millionen Tickets für Konzerte, Festivals und Veranstaltungen aller Art. Weltweit arbeiten gut 3.200 Mitarbeiter für den Konzern. Es geht hier – wie auch bei der Konkurrenz – um sehr viele Arbeitsplätze.
Doch diejenigen, die sich hier versammelt haben, gehören nicht dazu. Im Gegenteil, viele von Ihnen sind Ein-Mann/Frau-Unternehmen, Solo-Selbständige, völlig auf sich allein gestellt. DJs und Musiker sind darunter. Veranstalter von Firmenevents. Aber auch Azubis aus dem Bereichen Eventausstattung und Veranstaltungstechnik, sowie einige Mitarbeiter von lokalen Institutionen, wie dem Club "Modernes" in Bremen. Auf dessen Homepage prangt aktuell die traurige Mitteilung "weiterhin geschlossen und leider immer noch kein Ende absehbar."
Pleitewelle noch nie dagewesenen Ausmaßes
Viele der Selbständigen haben ihr Business über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut. Jetzt kann ein einziges irres Jahr alles vernichten. Viele erzählen im Interview, dass sie an ihre Altersvorsorgen gehen müssen. Oft besteht die nur aus ein wenig Erspartem und/oder einer einzigen Lebensversicherung. Einige staatliche Hilfen laufen Ende des Jahres aus. Stundungen werden nur teilweise übernommen. Ausfallversicherungen lindern nur die Not, decken aber die Kosten nicht.
Mit den wenigen überhaupt noch möglichen Auftritten vor kleinem Publikum ist kein Geld zu verdienen. Diese Rechnung macht mir Jan im Interview auf. Der DJ ist seit 30 Jahren in der Szene aktiv, hat in den ersten drei Monaten der Krise knapp 1.000 Euro im Monat erhalten und lebt nun von der staatlichen Grundsicherung. Nachdem jetzt jahreszeitlich bedingt die Outdoor-Events wegfallen, erscheint die Situation noch düsterer. Denn für Veranstaltungen in Innenräumen gelten weitaus strengere Verordnungen, die sich zudem fortlaufend ändern. Planung wird so zum Glücksspiel, und der finanzielle Ertrag deckt auch hier selbst im Idealfall kaum die Kosten.
Viele der Anwesenden müssen schlechtbezahlte Hilfsarbeiten oder finanzielle Unterstützung von Freunden und Familie annehmen. Kurzarbeitergeld und finanzielle Hilfen außer der Reihe haben zwischenzeitlich für ein wenig Entlastung gesorgt. Doch schon im Dezember droht der deutschen Veranstaltungswirtschaft eine gigantische Pleitewelle noch nie dagewesenen Ausmaßes.
Hilferufe aus dem Netz
"Mit dem Lockdown Anfang März wurden alle Veranstaltungen abgesagt. Wir waren die ersten, die nicht mehr arbeiten durften. Und wir werden die letzten sein, die wieder arbeiten dürfen." heißt es auf der Homepage von EVENTuell N!E WIEDER, der Initiative der Veranstaltungswirtschaft Nordwest, welche die Alarmstufe-Rot-Demos organisiert und veranstaltet.
In dieser Initiative haben sich Menschen zusammengetan, die mit künstlerischer und kreativer Arbeit ihr Geld verdienen oder in der Veranstaltungs- und Messebranche tätig sind. Weiter heißt es in dem Text: "Die Messe- und Eventbranche umfasst mehr als zwei Millionen Mitarbeiter und erwirtschaftet 70 Milliarden Euro Gesamtumsatz pro Jahr! Zur Kultur- und Kreativbranche zählen rund 1,7 Millionen Beschäftigte mit einem Umsatz von knapp 170 Milliarden."
1,7 Millionen Beschäftigte. Pi mal Daumen könnte man diesen Sektor also durchaus als "systemrelevant" bezeichnen. Der Bankensektor und große, teils staatseigene Konzerne sind es ja auch. Und dann noch diejenigen, deren Arbeit nur indirekt etwas mit dem großen Spektakel zu tun hat, aber trotzdem wichtig ist: Grafiker, Medien-Experten, PR-Profis, Sicherheitsleute, Promoter, Hostessen und viele mehr. Laut einer Studie ist jeder dritte Arbeitsplatz bedroht. Ein großflächiges Sterben in der Branche, dass nur durch eine Intervention von Außen zu verhindern ist.
Unternehmen und Politik: Ran an den runden Tisch!
Überraschend gut sind die Demonstranten gegenüber den Bremer Politprofis eingestellt. Hier sind keine bösen Worte zu hören. Andreas Bovenschulte, Bremens Bürgermeister sowie Präsident des Senats , lässt sich vor der Halle sehen, spricht ein paar Worte mit den Organisatoren. Er versichert im Senat Druck machen zu wollen und zeitnahe Förderprogramme zu erarbeiten. Die Politik im Land scheint die Problematik zu verstehen, zeigt sich gesprächsbereit. Laut vieler Aussagen, die man auf der Kundgebung hört, gilt dies jedoch nicht für den Bund. So empört sich eine Frau, dass die Regierung der Lufthansa eine dicke Finanzspritze von gut neun Milliarden Euro verabreicht, während Selbstständige nur finanzielle Notpflästerchen bekommen. Und das Kurzarbeitergeld werde später auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Während dem Flugkonzern noch dazu keine operative Vorgaben gemacht werden, wie mit dem geschenkten Geld zu verfahren sei. "Altmaier stellt sich tatsächlich ins Fernsehen und sagt, der Staat sei kein guter Unternehmer.", empört sie sich.
Ein Funken Hoffnung
So unterschiedlich die Demonstranten auch sind, so eint sie doch das selbe drohende Schicksal des totalen Niederganges. Sie sind vor Ort um Gesicht zu zeigen. Nicht nur für sich, sondern auch für ihre ganze Branche. Man will gemeinsam Druck aufbauen. Das macht auch einer der Organisatoren deutlich, wenn er alle dazu aufruft, noch mehr Leute ins Boot zu holen. Für die Demo später am Tag in Hannover. Für die Busfahrt zur großen Alarmstufe-Rot-Demo in Berlin. "Ein höherer Organisationsgrad bedeutet mehr Power!", ruft er seinen Mitstreitern zu. Die Reaktion ist verhalten.
Am nächsten Tag wird eine öffentliche Sitzung der Bürgerschaft stattfinden. Tagesordnungspunkte sind unter anderem Überbrückungsmaßnahmen und Förderprogramme für die Veranstaltungswirtschaft. Und deren staatliche Begleitung auf dem Weg in die Zukunft. Neue Konzepte müssen her, vor allem ertragswirksame Subventionen, schnell und direkt ausgezahlt an die Betroffenen. Die bisherigen Maßnahmen sind nur Tropfen auf dem heißen Stein. Politik und Wirtschaft müssen Weitblick beweisen und sich gleichzeitig mit der konkreten Situation der Betroffenen auseinandersetzen.
Bestimmte Menschen, die unabhängig von Erwerbseinkommen sind, erleben die für uns so quälende Zeit übrigens gerade ganz anders. Die Superreichen profitieren auch von dieser Krise. Eigentlich unnötig, es noch gesondert zu erwähnen, dies also nur der Vollständigkeit halber. Wir leben in einer korrupten Gesellschaft. Selbständige, einfache Arbeitnehmer und der Mittelstand werden abwechselnd geschröpft und alleingelassen. Pharma‑, Medien- und gewisse andere Großkonzerne machen Kasse. Und wer ernsthaft darauf hofft, dass "2020 endlich vorbei ist", und dann alles wieder besser wird, darf sich schon auf das nächste Jahr freuen.
Text: Stefan P.
Fotos: Stefan K., Stefan P., siehe Bildunterschriften