War der 66. Eurovision Song Contest, der vor wenigen Tagen in Turin über die Bühne gegangen ist, ein kontinentales Partyevent, so wie man die Veranstaltung bis Corona kannte? Oder war er anmutiger, oder gar poltischer denn je? ARD-Kommentator Peter Urban brachte es zu Beginn der Übertragung vom Finale auf den Punkt. "Der Eurovision Song Contest 2022 ist ein ganz Besonderer in außergewöhnlichen Zeiten." Und weiter führte der Kultreporter aus, der ESC steht für Toleranz, Verständigung und Respekt. Um so wichtiger ist es, gerade in Krisenzeiten an der Veranstaltung und an diese Werte zu erinnern.
Der ESC ist wieder da, und zwar so richtig. Vor zwei Jahren zwang der Ausbruch der CoVid-19-Pandemie die EBU zur Absage. Letztes Jahr bekam Rotterdam seine zweite Chance, und nutzte sie trotz beunruhigender Insidenzwerte, um mit einem Hygienekonzept den ESC 2021 auszutragen. Sogar mit Publikum; damit wurden die niederländischen Gastgeber zum Signal für sehr viele Kulturveranstalter, endlich wieder Unterhaltung unter die Leute zu kriegen. Und jetzt fühlte es sichzwar so an, als ob Corona weg wäre. Stimmt natürlich nicht, aber fast alle Einschränkungen existieren nicht mehr. Leben wie einst, wäre da nicht seit knapp drei Monaten die Invasion Putins in der Ukraine, die viele auch weit außerhalb des Konfliktherdes verunsichert.
Und jetzt – einfach Party machen und Musik hören, als wäre nichts? Die Redaktion hat sich umgeschaut, und war zu einem Public Viewing nach Köln gereist. Genauer genommen, nach Köln-Ehrenfeld. Auf dem Weg zum Bürgerzentrum, dem Ort des Geschehens, begrüßte uns schon im dazugehörigen Park eine bereits laufende Familienfeier, dem sehr frühlingshaften Wetter schuldend sehr gut besucht. Im Gebäude selbst warteten dann die Gastgeber Torsten Schlosser und Gerd Buurmann. Und Christian Bechmann; der Veranstalter. Oder, wie mir die Gastgeber versichern wollten, ohne ihn läuft gar nichts. Nichts in Ehrenfeld, und vor allem nichts im Bürgerzentrum.
Einlaß zum gemeinsamen ESC verfolgen war bereits ab 18 Uhr, obwohl der eigentliche Grund, weshalb man hier eintraf, noch knappe drei Stunden auf sich warten ließ. Um diese Uhrzeit war das Hineingehen in den bereits fahnenträchtig geschmückten Saal eine kleine Aufgabe. Die Location war zwar einladend, aber die nach wie vor über 20 Grad im Schatten vor dem Gebäude waren es auch. Zumal ein Stand mit erfrischenden Getränken jeglicher Art zur Abkühlung einlud. Und sehr bald tat es auch der Grill, der direkt vor dem Gebäude stand.
Wer sich eine Stunde lang bräunte und sich verköstigte, den lockte sehr bald das Aufwärmprogramm zur weltweit größten Musikshow in den Saal. Thorsten Schlosser und Gerd Buurmann moderierten und entertainten Rückschauen, aber sie schauten auch auf das, was uns alle in Turin erwartete. Zunächst aber wurde gebührend zurückgeblickt, denn in diesem Jahr feiert die deutsche ESC-Fangemeinde ein besonderes Jubiläum. 40 Jahre ist es her, als Nicole 1982 erstmals für Deutschland den ersten Preis gewann. In einem Interview verriet sie vor wenigen Jahren auf die Frage, wie oft sie "Ein bißchen Frieden" insgesamt schon gesungen hat, um eine Wirkung des Liedes selbst zu erzielen – viel zu wenig.
"Brandgefährlich", "Ich bin hin und weg", "Das muss Madonna erstmal besser machen" und "Da geh ich lieber auf die Party von Carsten Bechmann", mit diesen Hinweisen auf gedruckten Stimmkärtchen, durfte dann das Publikum interagieren. Einige der teilnehmenden Kandidaten für Turin wurden eingespielt, und mit Hilfe der Kärtchen schätzten die ESC-Fans die Chancen im Wettbewerb ein. Das ganze, wie die gesamte Aufwärmphase, immer mit komödiantischem Augenzwinkern verbunden.
Das Programm ergänzten Buurmann und Schlosser mit gesanglichen sowie schauspielerischen Einlagen. Torsten Schlosser bewies dabei sein sprachliches Talent, in dem er Ruth Jacotts ESC-Song "Vrede" aus dem Jahr 1993 original in niederländischer Sprache wiedergab. Bei all dem Klamauk, den beide veranstalteten, hatte exakt dieser Song jene Liedzeilen, die an Aktualität leider nichts verloren haben. Übersetzt heißt es im Song "Wir bauen Häuser, um Orkanen standzuhalten, und machen Schiffe, um in jedem Sturm zu fahren. Es wird an einer Lampe getüftelt, die nie kaputt gehen soll. Es will nur einfach nicht gelingen, den Frieden zu bewahren."
Aber auch Gerd Buurmann bewies sein musikalisches Talent. Was ihn vor allem am Teilnehmerfeld für Turin wurmte, dass es ein Jahrgang ohne Songs in französischer Sprache ist. Stimmt, denn auch Frankreich selbst setzte zumindest auf eine Sprache, die zwar im Land selbst gesprochen wird, aber eben nur von rund 150.000 Menschen im Land. Der Song "Fulenn" von Alvan & Ahez wurde in Turin vollständig auf bretonisch vorgetragen, somit wurde 2022 der erste ESC in seiner Geschichte, der gänzlich auf französisch verzichten musste. Buurmann entschädigte das Publikum vor Ort in Köln-Ehrenfeld, und präsentierete ein Medley der Songs von Vicky Leandros, Barbara Pravi und Celine Dion vor.
Zum weiteren Programm gehörte auch das Huldigen Italiens als Gastgeber, eine Top Ten italienischer Beiträge der ESC-Geschichte verdeutlichte, welche Klasse von den Songs ausgeht. Die ohnhin musikalische Sprache des Landes hilft da sicherlich nach. Theatralisch wurde es, als auf den norwegischen Act für den ESC hingewiesen wurde. Im Kern ist der Song "Give That Woolf A Banana" von Subwoolfer eine moderne Form von Rotkäppchen. Genau das boten die Gastgeber, und besänftigen das Raubtier tatsächlich mit Bannanen.
Es wurde Zeit für ein wenig Filmmaterial. Mit nostalgischem Anstrich. Denn der Film zeigte eine Aufnahme, die exakt 9 Jahre alt war. Am 14. Mai 2013, also am Abend des 1. Semifinales des ESC von Malmö, lobte Gerd Buurmann seinen Kompagnon Torsten Schlosser mit den höchsten Tönen als größten ESC-Experten im Land. Buurmann wollte an jenem Abend nicht glauben, das Österreichs Vertreterin Natalia Kelly im Semifinale ausscheiden würde. Schlosser sah das vorrauskommen. In Zukunft würde er seine Infos nur noch von Torsten einholen, dem eben größten Fachmann, wenn es um den Eurovision Song Contest geht.
Es wurde 21 Uhr, und wenige Minuten zuvor wurde bereits zur Übertragung der ARD geschaltet. Bestens geläutert mit dem "Wort zum Sonntag" waren nun Hunderte im Saal, um die knapp vierstündige Liveshow im Kinoformat zu verfolgen. ESC-Fans sind die loyalsten und fairsten, und so wurde jeder teilnehmende Act mit Applaus belohnt. Die Uptempo-Songs luden die Gäste zum Aufstehen und Abtanzen ein. Und natürlich beeidruckte der Auftritt des Kalush Orchestra, ohne dass sich der deutliche Sieg vor allem im Televoting hier schon abzeichnete.
Ähnlich enthusiastisch blieb es bei der Wertung aus Turin. Da in diesem Jahr sehr viele Songs einen Kontrast zwischen Juryvoting und dem europäischen Publikum bildeten, gab es sehr viele erstaunte Reaktionen. Musik ist in ihrer Klasse nicht meßbar, noch weniger sind es Musikgeschmäcker. Und so ging der ESC zu Ende, was die einen als gerecht empfanden, fand der Nebensitzer bereits schade im Ergebnis.
Nach dem ESC ist vor dem ESC, denn nach der Live-Übertragung gab es noch eine Veranstaltung, eigentlich waren es zwei. Der mittlerweile von Stühlen befreite Saal lud zur ESC-Disco und zum Abtanzen ein. Jene, die sich nach draußen wagten, diskuttierten den ESC-Abend. Dabei gab es zwei Fragen, die die Unterhaltungen beherrschten. Wo soll der ESC 2023 nach dem ukrainischen Sieg stattfinden, und wie soll das Auswahlverfahrenfür den deutschen Beitrag dahingehend korrigiert werden, damit mehr rauskommt als in den meisten der letzten 7 Jahre. Malik Harris beendete seinen sehr starken Auftritt mit dem letzten Platz.
Es war die zehnte Public Viewing Show im Bürgerzentrum Köln-Ehrenfeld, und die erste seit 2019. Aber soviel steht fest, es war nicht die letzte. Auch wenn noch unklar ist, wer tatsächlich die Ausrichtung des ESC 2023 übernimmt, das wichtigste wird sein, und da zitieren wir gerne Peter Urban, gesund und in Frieden. Wenn all das hinhaut, steht einem wonnigen Abend im kommenden Mai nichts im Weg. Wir kommen genre wieder nach Ehrenfeld, denn der Kölner Stadtteil ist genauso multikulturell wie der ESC.
Fotos & Text.: Hari Januschke