Barber Angels - Friseure gegen Armut - Wohnungslosentreffen 2018 - 23.07.2018

Wohnungs­lo­sen­treffen Freistatt 2018
Montag, 23. Juli (der 2. Tag)

Begrü­ßungs­plenum

Der Montag begann mit einem Treffen von mehr als  70 Teil­neh­menden nach dem Frühstück im sonnen­durch­flu­teten Sinnes­garten. Es wurde zunächst Orga­ni­sa­to­ri­sches bespro­chen und einige Teil­nehmer berich­teten auf Nachfrage von Stefan Schneider von ersten Erfah­rungen – Freistatt als sehr schönem Ort mit Möglich­keiten zum Rückzug, dem über­schau­baren Gelände des Treffens, der Freund­lich­keit und Hilfs­be­reit­schaft unter allen Teil­neh­menden und nicht zuletzt von der guten Aufnahme von Frauen als Tradition auch schon von den letzten zwei Treffen.

Danach gab es Infos von den bishe­rigen Treffen, der Entwick­lung von Treffen speziell für Obdach- und Wohnungs­lose im 19. Jahr­hun­dert in Deutsch­land, aus denen auch immer einzelne Projekte zur Verbes­se­rung der Lage Betrof­fener entstanden sind, meist in größeren Städten wie Berlin, Hamburg, Stuttgart und Hannover.

Frank Kruse (Bereichs­leiter der Wohnungs­lo­sen­hilfe Freistatt) berich­tete kurz über die Entste­hung des Projekts Wohnungs­lo­sen­treffen, das zusammen mit Peter Szynka (mitt­ler­weile im Un-Ruhestand) aus Hannover, Jürgen Schneider und Stefan Schneider zunächst für den Standort Freistatt initiiert wurde – und jetzt die Möglich­keit hat, zur 125-Jahr Feier der Wohnungs­lo­sen­hilfe Herzog­säg­mühle in Ober­bayern dort im Sommer 2019 fort­ge­führt zu werden.

Einige Teil­neh­mende der Vorjah­res­treffen schil­derten dann noch ihre Eindrücke voriger Treffen und es wurde eine Gedenk­mi­nute für die Verstor­benen ehema­ligen Teil­neh­menden abgehalten.

Abschlie­ßend wurden noch die weitere Arbeit des Projekts skizziert (eine Förder­ver­eins-Gründung ist geplant) und eine Weiter­füh­rung nach dem jetzigen Ablauf der ersten Projekt­för­de­rung angemahnt, für die ein Folge­treffen in Ober­bayern sicher­lich förder­lich wäre.

Mittags­pro­gramm

Um 11:00 Uhr führte Frank Kruse inter­es­sierte neue Teil­neh­mende des Treffens durch Freistatt.

Führung durch Freistatt - Wohnungslosentreffen 2018 - 23.07.2018
Führung durch FreistattWohnungs­lo­sen­treffen 2018 – 23.07.2018

Um 13:00 Uhr begannen die „Barber Angels“ auf und neben der Bühne inter­es­sierten Teil­neh­mern kostenlos die Haare zu schneiden. Die „Barber Angels“, sind ein Club von Friseuren, der nicht Augen und Scheren verschließt vor der allge­gen­wär­tigen Armut. Die „Angels“ reden nicht viel, sie handeln. Gemeinsam mit Kollegen aus ganz Europa schneiden sie Wohnungs­losen und Bedürf­tigen die Haare. Kostenlos, freund­lich und mit viel Humor. Tolle Aktion, da werden wir noch einmal ausführ­li­cher drüber berichten.

 


Wohnungs­lo­sen­treffen: Gestern, heute und morgen

Peter Szynka, einer der Mitgünder des Projekts Wohnungs­lo­sen­treffen (WLT), freute sich alle Zuhörer zu begrüßen, um gemeinsam die Entwick­lungen seit 1991 bis zum dies­jäh­rigen Wohnungs­lo­sen­treffen Freistatt 2018 kennenzulernen.

Gestern

Die Eröffnung lieferte Werner Seitschek aus Uelzen, der das Wohnungs­lo­sen­treffen 1991 in Uelzen orga­ni­siert hatte. Dazu hatte er eine erfreu­lich über­sicht­liche Diashow mitge­bracht, die histo­ri­sche Bilder vom damaligen Treiben rund um den Wasser­turm und auch in der Stadt zeigten. Stefan Schneider, der mit anderen Berlinern vorbei­ge­schaut hatte, erinnerte sich schmun­zelnd an ein „eigent­lich einziges Chaos“, an das er sich an diese vier­tä­gige Versamm­lung mit 200 bis 300 Menschen erinnere.

Aber auch damals schon ging es um die Schaffung von Öffent­lich­keit und die Aner­ken­nung von obdach- und wohnungs­losen Menschen als Teil unserer Gesell­schaft, aber auch um das mitein­ander Umgehen in einer sehr bunt gemischten Gruppe, die zeitweise auf recht engem Raum zusam­men­lebte. Werner konnte auch von einer gewissen Unter­stüt­zung aus seiner Stadt berichten, so spendete ein Bäcker jeden Tag mehrer hundert Brötchen, er hätte sich aber im Rückblick auf das Treffen insgesamt mehr Dialog mit außen­ste­henden Menschen gewünscht, um Vorur­teile abzubauen. Er sehe solche Treffen als gute Möglich­keit zur Weiter­ent­wick­lung von Ideen an – auch wenn seiner Erfahrung nach immer ein paar Menschen nötig seien, die „die Sache in die Hand nehmen“, um wirklich weiterzukommen.

Heute

Aus der versam­melten Runde kamen dann Eindrücke der frei­stätter Wohnungs­lo­sen­treffen: Die Qualität des Essens kam zur Sprache, die wohl für viele Teil­nehmer unge­wöhn­lich sei – wir stimmen dazu aber auch mit dem Orga­ni­sa­tions-Team überein, dass Teil­neh­menden einer solchen Veran­stal­tung ange­mes­sene Verpfle­gung zustehen sollte. Die bessere Mobi­li­sie­rung zum Treffen, deutsch­land- und euro­pa­weit wurde als Heraus­for­de­rung künftiger Treffen angeregt. Insbe­son­dere die größere Betei­li­gung von Städten im Osten und aus deutlich mehr Ländern Europas sei wünschens­wert. Dazu sollten alle Teil­neh­menden aufge­rufen werden, sich bei Treffen bei EU-Veran­stal­tungen zum Thema Obdach- und Wohnungs­lo­sig­keit zu bewerben.

Neben der Suche nach neuen Finan­zie­rungs­mög­lich­keiten für das Projekt WLT kam die Anregung auch nach neuen Ideen zu suchen. Ideen dazu waren Akti­ons­formen wie Theater, Flugblatt-Verteilen, Druck­sa­chen und Europa-Aktionen, und auch die Frage nach dem Umgang mit der Politik in den Bundes­län­dern, in Deutsch­land und in Europa kam auf.

Peter Szynka kam dann zu den drei Treffen in Freistatt, für die sich nach dem dies­jäh­rigen „Sommer­camp“ dann sicher auch die Frage nach der Entwick­lung der Orga­ni­sa­tion in den letzten drei Jahren stelle.

Morgen?

Michael Schmidt, der Bereichs­leiter der Wohnungs­lo­sen­hilfe Herzog­säg­mühle (HSM) in Ober­bayern, startete dann den Aufruf „den Süden dazu­nehmen!“. Er hatte einen Kurzen Film des BR mitge­bracht, der das Dorf Herzog­säg­mühle vorstellte, das im ober­bay­ri­schen Pfaf­fen­winkel etwa 80 km südlich von Augsburg liegt.

Seit etwa zwei Jahren verfolgt die Wohnungs­lo­sen­hilfe dort ein neues Konzept der „Gemein­wohl­öko­nomie“, das für Nach­hal­tig­keit, Parti­zi­pa­tion und Mitbe­stim­mung stehe. Zum 2019 anste­henden 125-jährigen Jubi­lä­ums­jahr in Herzog­säg­mühle lud Michael Schmidt das Projekt Wohnungs­lo­sen­treffen ein, dort im Sommer sein viertes Treffen zu beher­bergen. Dazu stellte er auf Fotos die Örtlich­keiten vor, an  denen solch ein Treffen statt­finden würde: Eine Große Wiese am HSM-Sport­platz mit Sport­halle, den Rainer-Endisch-Saal (eine größere Versamm­lungs­halle) und einige kleinere Konfe­renz­räume. Es gibt einen Edeka-Laden im Ort mit Bio-Abteilung und die Verpfle­gung würde die Haupt­küche über­nehmen. Die Unter­brin­gung der Teil­neh­menden müsste in Groß­zelten (ähnlich wie auf den bishe­rigen Treffen) erfolgen, ein Gästehaus ist im Ort aber nicht vorhanden.

Es bestehen Zugver­bin­dungen ab Augsburg  oder München (jeweils etwa 80 km entfernt), zu den nächsten Bahnhöfen Schongau und Peiting könnten dann HSM-Shuttles orga­ni­siert werden.

Zum Abschluss lud Michael Schmidt dann das Plenum des Projekts Wohnungs­lo­sen­treffen herzlich ein, sich für das WLT 2019 für Herzog­säg­mühle als Veran­stal­tungsort zu entschließen.


Wohnraumagenturen - Wohnungslosentreffen 2018 - 23.07.2018
Wohn­raum­agen­turen – Wohnungs­lo­sen­treffen 2018 – 23.07.2018

Chancen durch soziale Wohnraumagenturen?

Wie kann man für Wohnungs­lose eine eigene Wohnung finden?“ Das war die Frage, die bei einer Präsen­ta­tion im Semi­nar­raum in Haus Wegwende aufge­worfen wurde. Gestellt wurde sie von Axel Steffen von der Gesell­schaft für inno­va­tive Sozi­al­for­schung und Sozi­al­pla­nung e.V. (GISS) in Bremen, der soziale Wohn­raum­agen­turen und deren Hilfe-Modelle vorstellte.

Diese Agenturen folgen dem belgi­schen „Housing First“ Ansatz, um Wohnraum für Wohnungs­lose zu vermit­teln. Die Betrof­fenen erhalten dabei aller­dings zum Teil nur befris­tete Miet­ver­träge. Die Umsetz­bar­keit sowie die vorge­tra­genen Zahlen zur Unter­stüt­zung des Ansatzes wurden bereits in der Diskus­sion stark in Frage gestellt. Ange­sichts der wahr­schein­lich bereits 2019 zu erwar­tenden Zahl von mehr als einer Million wohnungs­loser Menschen in Deutsch­land wird dieses Projekt maximal ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Man kann eben keinen bezahl­baren Wohnraum vermit­teln, wenn dieser nicht vorhanden ist.

Im Rahmen der Diskus­sion über den Entschlies­sungs­an­trag des Nieder­säch­si­schen Landtages zur Hilfe für wohnungs­lose Menschen werden wir auf diesen von der FDP unter­stützten Ansatz noch ausführ­li­cher eingehen.


Projekte wohnungs­loser Menschen

Im Anschluss stellten Norbert, Karsten und Kurt verschie­dene Beispiel­pro­jekte vor mit denen wohnungslos Menschen als direkt Betrof­fene ihre Sicht­weise sozialer Probleme vorstellen und ihre eigenen Verbes­se­rungs­vor­schläge dazu erläutern.

Norbert erläu­terte sein „Ruck­sack­pro­jekt“, bei dem es darum geht Schul­kin­dern den Weg in die Obdach­lo­sig­keit zu erklären. Dazu schildert er seine Erfah­rungen mit dem Leben auf der Straße und er versucht, Wege aus der Obdach­lo­sig­keit aufzu­zeigen. Mit Hilfe einer umfang­rei­chen Präsen­ta­tion und Fall­bei­spielen sollen die Schüler sich mit dem Problem Obdach- und Wohnungs­lo­sig­keit auseinandersetzen.

Karsten erzählte im Anschluss von mehreren selbst­or­ga­ni­sierten Hilfs­pro­jekten aus Mainz, die sich mit der Lagerung des Hausrats von wohnungslos gewor­denen Menschen und der geplanten Einfüh­rung eines zweiten Kälte­mo­bils für den Raum Mainz beschäftigten.

Kurt, der ebenfalls zur Zeit in Mainz lebt, sprach über seine Erfah­rungen mit der Betreuung des Tier­fried­hofes in Mainz und seine Erfah­rungen mit dem Verkauf der Stra­ßen­zei­tung „Straßen-Gazette“.


Abend­pro­gramm: Achtung, Kultur!

Nach dem gemein­samen Abend­essen am „Alten Backhaus“ lockten erste Klänge der – allen Frei­stät­tern bestens bekannten – „Arrested Amts­brü­dern“ hinüber in den Sinnes­garten. Unsere Lieb­lings­mu­siker (die Redaktion) spielten in gewohnt melo­di­scher Weise auf.

WLT Freistatt 2018 - Konzert der „Arrested-Amtsbrueder“
WLT Freistatt 2018 – Konzert der „Arrested-Amts­brueder“

Das Publikum vor der Bühne (aber auch im Umkreis des rest­li­chen Sinnes­gartens mit seinen zahl­rei­chen Sitz­ge­le­gen­heiten) genoss das Repertoir des Duos, das mit Folk bis Oldies und verschie­denen Klas­si­kern der Popge­schichte den Abend und die langsam heran­zie­hende Nacht ausklingen ließ.

Wir möchten uns an dieser Stelle für das ehren­amt­liche Enga­ge­ment von Uli Preuß und Rainer Wölk herzlich bedanken, die jetzt alle Wohnungs­lo­sen­treffen in Freistatt mit ihrer Musik berei­chert haben.


So endete der zweite Tag des Wohnungs­lo­sen­treffens Freistatt 2018 mit vielen Gesprä­chen und Diskus­sionen unter den Teil­neh­menden. Wir werden euch hier weiter von den folgenden Tagen berichten.