Da der Dezember vor dem Jahreswechsel traditionell eine besinnliche Zeit des Nachdenkens ist, hatte dazu passend die Partei DIE LINKE am 12. Dezember 2019 nach Berlin eingeladen, um eine angemessene Trauerfeier abzuhalten: Zum 2020 anstehenden 15-jährigen „Jubiläum“ der Arbeitsmarktreform von 2005 – das umgangssprachlich gerne als „HARTZ IV“ bezeichnet wird.
Die damalige Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) unter Mitwirkung von Wolfgang Clement (SPD) als Minister für Wirtschaft und Arbeit bescherten uns damals (als Teilstück des Reformkonzepts „Agenda 2010“) zum 1. Januar 2005 das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, mit dem das ALG II eingeführt wurde.
Um den dazu anstehenden Feierlichkeiten (?) zuvorzukommen hatte die Parteispitze der LINKEN Vertreter*innen von Initiativen, Gewerkschaften und Verbänden in das Paul-Löbe-Haus neben dem Deutschen Bundestag in Berlin eingeladen.
„Mehr als 15 Jahre Kampf gegen Hartz IV“
Für die Mehrzahl der Teilnehmenden traf dieser Tagungstitel exakt ihre Erfahrungen mit diesem Arbeitsmarktgesetz, dessen Auswirkungen von betroffenen Arbeitnehmern und Arbeitslosen aber auch von sozial beratenden Menschen unserer Erfahrung nach sehr kritisch gesehen werden.
Für Katja Kipping, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, ist das Thema „HARTZ IV und Armut“ auch ein Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit – und heute leider ein untrennbarer Zweiklang. Daher begleitete sie auch praktisch die gesamte Veranstaltung und stand allen Teilnehmenden zum Meinungsaustausch zur Verfügung. Im Namen aller Teilnehmenden dürfen wir dafür an dieser Stelle „Danke Schön!“ sagen für dieses Engagement.
Die Tagung gliederte sich in vier Teile:
- Der Eröffnung mit Grußworten
- Einer Bilanz zu 15 Jahren „HARTZ IV“ von Katja Kipping
- Vier thematische Gesprächsrunden
- Empfang, Imbiss und einer Lesung mit Spielszenen:
»Heart’s Fear – Geschichten von Armut und Ausgrenzung«
Eröffnung
Die Runde im großen Tagungsraum wurde von Dr. Dietmar Bartsch (MdB und Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag) eröffnet mit der Begrüßung der etwa 70 Teilnehmer*innen und seiner Einleitungsthese:
„15 Jahre "HARTZ IV" – Das ist sicher KEINE Erfolgsgeschichte!“
Bundeskanzler Schröders Anfrage an Peter Hartz Anfang 2002 für ein Konzept einer Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik sei damals schon von DER LINKEN als absehbar problematisch kritisiert worden mit einem engagierten „Trommeln“ dagegen. Leider habe sich ihre damalige Befürchtung bewahrheitet: „Armut per Gesetz“ – genau das sei „HARTZ IV“.
Die Gesellschaft habe sich durch ein Ausspielen von arbeitenden Menschen gegen die anderen zu kurz gekommenen Arbeitslosen, Zeitarbeiter und prekär beschäftigte Menschen seither deutlich verändert. In der gesellschaftlichen Stigmatisierung von „HARTZ IV“-Beziehern müsse man auch einen Grund für den Niedergang der SPD sehen – leider, müsse man heute selbst als Linker sagen.
Deutschland sei damit ein Weltmeister des Lohndumpings geworden, was auch ein Grund für eine wachsende Kinderarmut und mehr als 10 Milliarden Euro Aufstocker-Leistungen sei. Dagegen gebe es Milliardäre, denen es ermöglicht werde, nur Bruchteile von einem Prozent Steuern zu zahlen.
Zur Grundrente sei eine viel zu halbherzige „Lösung“ entstanden, wohingegen Rüstungsausgaben steigen sollten. Er sehe die weitere Entwicklung der SPD sehr kritisch, wobei die Notwendigkeit eines engagierten Kampfes gegen eine weitere Entsolidarisierung unserer Gesellschaft nötig sei.
Susanne Ferschel (MdB, stellv. Fraktionsvorsitzende DER LINKEN und Leiterin des Arbeitskreises Arbeit, Soziales und Gesundheit) kritisierte ein zu beobachtendes neoliberales Framing als Basis der „HARTZ IV“-Gesetze, die weiter bekämpft werden müssten: „Damit können wir uns niemals abfinden!“, darin herrsche Einigkeit in ihrer Partei. Ihr Ziel sei die Abschaffung von „HARTZ IV“ mitsamt dessen Sanktionierungssystems.
Selbst Teile der Grünen und der SPD sähen das heute zumindest ähnlich, womit sich die Frage nach konkretem Handeln ergebe. Hubertus Heils Bundesarbeitsministerium habe diesen Wandel offenbar noch nicht bemerkt. Sein Vorhaben, „HARTZ IV“-Bezüge doch um mehr als 30% zu kürzen, sei erst nach sehr lauten Protesten storniert worden.
Sie regte auch mehr gewerkschaftliche Diskussionen an, denn das „HARTZ IV“-System bedrohe als „Damoklesschwert“ und Erpressungs-Instrument alle Arbeitnehmer und ermögliche Armutslöhne im reichsten Land Europas.
Das derzeit festgelegte „Existenzminimum“ sei falsch definiert, ein Mindest-Regelsatz von 582,- Euro wäre angebracht und auch finanzierbar. Zumal offenbar für Steuererleichterungen und wachsende Rüstungsausgaben problemlos „Geld zu finden“ sei.
DIE LINKE trete für einen Mindestlohn von 12,- Euro ein, eine bessere Absicherung für Arbeitslose und auch ALG-I-Bezieher, deren Lebensbedingungen verbessert werden müssten.
Bilanz zu 15 Jahren „HARTZ IV“
Katja Kipping (MdB, Vorsitzende der Partei DIE LINKE, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion) erläuterte dann ihre Bilanz von 15 Jahren „HARTZ IV“.
Dazu präsentierte sie zahlreiche Daten zu folgenden Punkten:
- 15 Jahre Verfestigung von Armut
- 15 Jahre Armut per Gesetz
- 15 Jahre Kleinrechnen des Existenzminimums
- 15 Jahre unter dem Damoklesschwert der Sanktionen
- 15 Jahre zwischen Zwangsumzug und Wohnkosten vom Munde absparen
- 15 Jahre Nichtinanspruchnahme von „HARTZ IV“-Leistungen
- 15 Jahre Angriffe auf die Wehrhaftigkeit von Erwerbslosen und Erwerbstätigen
- 15 Jahre Angriffe auf Arbeitsstandards
- 15 Jahre Förderung von unsicheren und prekären Arbeitsverhältnissen
- 15 Jahre Arbeitsvermittlung mit Drehtüreffekt
- 15 Jahre ökonomisch fragwürdige Stellung Deutschlands in der EU
- 15 Jahre Selbsthilfe und Protest
- 15 Jahre Kampf gegen „HARTZ IV“ und sein Sanktionssystem
- 15 Jahre Kampf für individuelle Rechte und gegen das Konstrukt „Bedarfsgemeinschaft“
- 15 Jahre Kampf für eine eigenständige Kindergrundsicherung
Katja Kipping stellte dazu eine Reihe von Anträgen DER LINKEN an den Deutschen Bundestag vor, die im Zusammenhang mit den „HARTZ IV“-Regelungen gestellt worden seien:
- Einführung eines Kinderweihnachtsgeldes
- Abschaffung von Sanktionen bei „HARTZ IV“
- Abschaffung von Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe
- Wirksame Bekämpfung von Armut in Deutschland
- Öffentlich geförderte Beschäftigung für Langzeiterwerbslose
- Kosten der Unterkunft existenzsichernd zu gestalten
- „HARTZ IV“ auf 582,- Euro zu erhöhen
- Verwaltungskosten der Jobcenter durch eine Bagatellgrenze
für Rückforderungen zu senken - „HARTZ IV“ durch eine Grundsicherung für Arbeitssuchende zu ersetzen
- Arbeitslosengeld zu verbessern: Arbeitslosengeld Plus einzuführen
- Soziale Garantien ohne Sanktionen einzuführen
Ihr Resümee war zuletzt: „Feiern zu 15 Jahren "HARTZ IV"? – ohne uns!“
Sie sehe nur eine Aufgabe des bisherigen „HARTZ IV“ zu Gunsten eines Arbeitslosengelds Plus als Lösung für die in den letzten 15 Jahren offensichtlich gewordenen Probleme.
Zuletzt rief Katja Kipping dazu auf, gemeinsame Aktionen zur Abschaffung des „HARTZ IV“-Systems abzusprechen und dabei deutlich zu machen, welche Spuren 15 Jahre „HARTZ IV“ bei den betroffenen Menschen hinterlassen habe.
Thematische Gesprächsrunden
Danach teilte sich die große Runde in vier Arbeitsgruppen auf, die in kleineren Tagungsräumen des Paul-Löbe-Hauses stattfanden:
① Das Existenzminimum kürzt man nicht
Der Kampf für Sanktionsfreiheit nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 5. November 2019 wird wohl weitergehen müssen.
Dazu diskutierte Friedrich Straetmanns, MdB und Sprecher für Rechtspolitik der Partei DIE LINKE, mit interessierten Besucher*innen.
② Kämpfe um das Existenzminimum
Armutsgrenze, Leistungshöhe und politische Eingriffe in die Berechnung der „Hartz IV“-Leistungen, die rückblickend fast immer zu Kürzungen der ALG-II-Zahlungen führten.
Diese Arbeitsgruppe tagte mit Jessica Tatti, MdB und Sprecherin für „Arbeit 4.0“ der Partei DIE LINKE.
③ Weiterbildungen im ALG-II-Bezug
Stand und Perspektiven aus linker Sicht wurden in dieser Gruppe mit Sabine Zimmermann, MdB und Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik der Partei DIE LINKE diskutiert.
④ Politisierung Erwerbsloser
Die Frage „Wie erreichen wir noch mehr Erwerbslose?“ diskutierte Achim Kessler, MdB und Sprecher für Gesundheitsökonomie der Partei DIE LINKE mit seiner Besuchergruppe.
Ergebnisse der Gruppenrunden
In der gemeinsamen Abschlussrunde wurden Forderungen zum bestehenden „HARTZ IV“-Regelwerk bzw. zu seiner Überwindung zusammengefasst:
- Die Regelsätze müssen erhöht werden
- Soziale Teilhabe muss sichergestellt werden
- Eine Vereinheitlichung beim Übergang zur Rente sollte
finanzielle Nachteile dabei beheben - Die Forderung „HARTZ IV“ abschaffen
- Aufruf zu gemeinsamen Diskussionen und Forderungen
- Anhebung des Mindestlohnes als Basis für Verbesserung der Grundsicherung
- Strom sollte zu den Kosten der Unterkunft gehören
- Die Übernahme der Kosten der Unterkunft sollte transparenter sein
- Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen wurde angeregt
Empfang mit Lesung und Imbiss
Nach den anregenden Diskussionen in den Arbeitsgruppen, die nach unserer Beobachtung sicher auch viele Anregungen für eine bessere künftige Zusammenarbeit boten, folgte dann der beschaulichere Abschluss der Tagung.
Dazu begaben sich alle Tagungsbesuchenden über den beeindruckenden Spree-Übergang in das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das den östlichen Abschluss des Band des Bundes am Deutschen Bundestag im Reichstagsgebäude bildet.
Bettina Kenter-Götte war angereist, um ihr Buch „Heart’s Fear – Hartz IV – Geschichten von Armut und Ausgrenzung“ in einer szenischen Lesung vorzustellen und ihre Geschichten auf der Bühne zum Leben zu erwecken.
„Heart's Fear“ durch Armut und Ausgrenzung
Bettina Kenter-Götte hat als freiberufliche Künstlerin immer wieder Zeiten von Arbeitslosigkeit und ALG-II-Bezug erlebt und dabei leider umfangreiche Erfahrungen mit verweigerten Zahlungen, Sanktionierungen und juristischen Streitigkeiten mit Jobcentern erleben müssen.
Diesen eigentlich sehr negativem „Erfahrungsschatz“ hat die Künstlerin zu einem lesenswerten Buch verarbeitet, das in seinen Kapiteln nahezu alle Facetten des alltäglichen Wahnsinns im „HARTZ IV“-Räderwerk mit all seinen Unsicherheiten und „Folterwerkzeugen“ beleuchtet.
Bettina Kenter-Götte präsentierte ihr persönlich durchlebtes „Hartz-Grusical“ mit Szenen zwischen Anträgen, Lebensläufen und stakkatoartig bis aggressiv vor das Publikum geworfene Stichworte des Sachbearbeiter-„HARTZ IV“-Sprechs in deutschen Jobcentern.
Auch der Ausspruch „Heute ist ein schöner Tag für Arbeitslose“ von Peter Hartz (damals Vorstandsmitglied von VW und Mitentwickler des Arbeitsmarkt-Reformkonzepts zur Agenda 2010) fehlte nicht mit dem Hinweis auf seine spätere Distanzierung von den „HARTZ IV“-Gesetzen.
Es war eine sehr unterhaltsame und lebendige Aufführung, die das Thema soziale Nöte und Ausgrenzung sehr lebendig werden ließ. Leider sind wir uns aber auch bewusst, dass die Vorstellung eigentlich eine Pflichtveranstaltung für ganz andere Menschen sein müsste – Macher, Politiker und Verantwortliche, die in geschlossenen Runden ohne wirkliche Beteiligung betroffener Menschen verwalten und damit auch richten können.
Wir möchten jedenfalls davongekommenen, „noch normal arbeitenden“ Menschen des ersten Arbeitsmarktes dieses „furchteinflößende Buch“ wärmstens als Lektüre ans Herz legen für eine besinnliche Weihnachtszeit. Das könnte ja vielleicht zum Nachdenken über die eigenen Lebensumstände führen. Zu der Frage, wann man / mensch persönlich in Zukunft einmal selbst betroffen sein könnte von einem Abstieg in die Niederungen des „HARTZ IV“-Regimes.
Vielleicht ist „HARTZ IV“ ja doch weniger „… die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“ sondern viel mehr die eigentliche Ursache für die stetig wachsende Armut in unserer Gesellschaft? – Bundesministern empfehlen wir jedenfalls, ihren Wählern künftig solche Verhöhnungen zu ersparen.
Fazit
Wir erlebten so eine sehr interessante und spannende Veranstaltung der Partei DIE LINKE, die den eher traurigen Veranstaltungsgrund – leider schon „15 Jahre HARTZ IV Reformen“ – in aus Betroffenensicht durchaus angebrachter Weise würdigte … so weit diesem fragwürdigen „Reformprojekt“ nach seiner 15-jährigen Durchführung überhaupt etwas „Würdiges“ abzugewinnen ist.
Aus unserer täglichen Arbeit können wir DER LINKEN und Katja Kipping nur zustimmen in der eindeutigen Ablehnung der derzeitigen Umsetzung der ALG-II- / „HARTZ IV“-Gesetzgebung, die besonders mit ihren Sanktionierungen für Betroffene oftmals existenzgefährdende Auswirkungen hat – und zum Beispiel oft keinerlei Bedenken kennt, Kinder in „HARTZ IV“-Familien mit zu sanktionieren oder junge Erwachsene sehr schnell in die Wohnungslosigkeit zu treiben.
Auch das „Aufblühen“ des sogenannten „zweiten Arbeitsmarkts“ mit all seinen fragwürdigen Facetten und prekären Arbeitsverhältnissen wäre wohl ohne „HARTZ IV“-Gesetzgebung so nicht entstanden.
Die vom Grundgesetz vorgegebene Forderung nach einem menschenwürdigen Leben für alle Bürger dieses Landes hätte diese aktuell zu beobachtende Spaltung unserer Gesellschaft niemals entstehen lassen dürfen.
Unserer Meinung nach haben die Verursacher (und „Aufrechterhalter“) dieser Gesetzgebung allen Grund dazu, das anstehende Jubiläum der Reformen zu „modernen Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (?) zum Anlass zu nehmen, über eine wirklich angemessene „Soziale Teilhabe“ für ALLE Bürger unserer Gesellschaft nachzudenken.
In einem der reichsten Länder Europas ist da offenbar ein extremer Bedarf an Verbesserungen nötig und wir sehen uns gezwungen, einmal jede Partei – in aktiver und künftiger Regierungsverantwortung – zu fragen, wie lange sie noch einem erschreckend großen und offenbar wachsenden Teil ihrer Bürger und Bürgerinnen dieses Grundrecht auf soziale Teilhabe und menschenwürdige Lebensumstände vorenthalten will.