Jawohl, richtig gelesen. Am 4. März, also 63 Tage nach dem Neujahrstag, lud die Diakonie Freistatt zum offiziellen Neujahrsempfang für die Mitarbeiter der Wohnungslosenhilfe ein. Da der eigentliche Jahresbeginn 2020 gefühlt schon eine Ewigkeit her zu sein scheint, schienen es die Veranstalter mit den Berechnungen des römischen Kalenders zu halten. In diesem war der Jahresbeginn auch auf den März datiert.
Ob Januar oder März, der Veranstaltungsraum in der Freistätter Moorkirche war gut besucht. Ob Bereichsleiter, Sozialarbeiter, Fahrdienst, Hauswirtschaft oder Mitarbeiter aus weiteren Bereichen, insgesamt circa 50 an der Zahl, trafen sich zur vormittäglichen Versammlung. Man muss ja in dieser Zeit nicht alles absagen, man braucht ja nur gut vorzubeugen – mit dem Bezug zur aktuellen Realität begann Claus Freye die Vortragsreihe. SARS-CoV‑2, kurz, das Corona-Virus, sorgt derzeit für Unsicherheit überall dort, wo mehrere Menschen zusammenkommen. Der Geschäftsführer von Bethel im Norden wolle die jetzige Situation weder unterschätzen oder überbewerten. Aber beim Händeschütteln oder Niesen solle man genauso Vorsicht walten lassen, wie beim gründlichen Händewaschen.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" – Artikel 1 des Grundgesetzes im Grundgesetz kennt wohl jeder. In den anschließenden Vorträgen von Bereichsleiter Frank Kruse sowie Professor Dr. Ralf Stoecker von der Universität Bielefeld, spielte dieser Artikel und der tatsächliche Umgang eine große Rolle. Kruse warf dabei einen Blick auf die Gesetzesbücher I, II und III des Sozialgesetzbuch. Was unter §1 im SGB I noch unter gesetzlich vorgegebenes menschenwürdige Existenzsicherung dargestellt wird, sieht im SGB II deutlich anders aus, sehr zum Nachteil derjenigen, die auf die Leistungen nach SGB II angewiesen sind. Nach §9 SGB I haben Hilfesuchende ein Recht auf auf persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die selbst diesen Menschen eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht, sowie die Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens sichert.
Einen menschenwürdigen Umgang sieht dagegen der SGB II zwar in der Formulierung, jedoch nicht in der Durchsetzung. Allein beim Umgang mit Arbeitssuchenden weicht der Freiheitsgedanke weit weg von den ursprünglichen Werten unserer Demokratie ab. So erinnert der §2 mitunter an Methoden aus der Zwangsarbeit. Arbeitsfähige Personen müssen demnach eine zumutbare Tätigkeit annehmen, um ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften zu bestreiten. Das alles ist gesetzlich verankert in einem Land, in dem einst das Prinzip der freien Arbeitsplatzwahl galt. Durch die Schaffung des SGB II wurde auch der Begriff der Zumutbarkeit mehr willkürliche Objektivität Platz und Raum geboten.
Mit einem kurzen Blick auf den SGB III, in dem unter anderem die klare Absicht des Gesetzgebers geschrieben ist, die Arbeitsförderung so anzuwenden und auszurichten, dass sie der beschäftigungspolitischen Zielsetzung der Sozial‑, Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung entspricht, endete Kruses Vortrag, in dem er auch über die Fortschritte der Wohnungslosen würdigte. Wohnungslose Menschen nehmen mittlerweile an Tagungen und auf Messen teil, und kämpfen um mehr Einfluss in der Politik.
"Was ist Würde?", der Vortrag Prof. Dr. Ralf Stoecker aus dem Forschungsbereich der praktischen Philosophie trug diese Überschrift. Der Professor der Universität Bielefeld gliederte seine Ansprache in drei Teile. Teil I und II trugen jeweils den Titel "Was ist das, die Menschenwürde?", wobei er zunächst das Problem beschrieb und anschließend versuchte, eine Antwort zu finden. Teil III befasste sich dann mit den Folgen der Praxis. Über den menschenwürdigen Umgang mit wohnungslosen Menschen befasste sich Prof. Stoecker zunächst unter anderem mit Zitaten der Philosophen Cicero und Immanuel Kant, die selbst schon vor Jahrhunderten feststellten, dass die Würde des Menschen in der Vernunft eine jeden Einzelnen liegt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wuchs in weiten Teilen die Bedeutung des Begriffs Menschenwürde. Nicht nur die Schreckenstaten während der nationalsozialistischen Diktatur, insbesondere die herabwürdigenden und erniedrigenden Methoden beim Umgang mit Verfolgten, um Menschen, die nicht der Ideologie entsprachen, sorgten mit Kriegsende für mehr Wertigkeit der Würde. Der Professor erwähnte weiter, dass der menschenwürdige Umgang sowohl in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung als auch im Internationalen Pakt festgehalten sind. In diesen Statuten ist auch das Niveau des Lebensstandard klar vorgegeben.
Doch wie sieht die Gegenwart aus? Professor Stoecker fasste die Lebensumstände von Betroffenen zusammen, und stellte etliche Punkte zusammen, unter denen die Würde eines Einzelnen auch in der heutigen Zeit verletzt wird. Alleine das Leben am, wenn nicht unter dem Existenzminimum, sorgt für Ausgrenzung und den Ausschluss aus der sozialen Teilhabe. Betroffenen fehlt es am Rückzugsbereich, sie erfahren nicht selten eine ungerechte Behandlung, sind Diskriminierungen sowie dem Zufügen von körperlichem Leid ausgesetzt, die Privatsphäre wird vielfach verletzt oder das Recht der Selbstbestimmung wird stark beeinträchtigt.
Unter den Eindrücken dieser Vorträge diskutierten die Zuhörer beim anschließenden und gemeinschaftlichen Mittagessen über die Inhalte weiter. Wir sind ja des Öfteren bei Vorträgen, aber der Neujahrsempfang in der Moorkirche zeigt hoffentlich Wirkung. Soviel steht fest, der Gesetzgeber kann per Paragraph viel Einfluss ausüben, es umzusetzen liegt aber nicht nur in der Macht der Politik und der Gesetzeshüter. Die Würde, und der Umgang mit ihr, ist auch eine Angelegenheit eines jeden Einzelnen von uns. Herzenssache und Menschenverstand sind genauso notwendig, um die Gesellschaft auf diese Weise zu stärken. Sowohl die Herzenssache und der Menschenverstand zeichnen sich darin aus, dass sie keinen verbindlichen Paragraphen benötigen – beides braucht jeder Einzelne einfach nur zu bemühen.