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Euro­vi­sion Song Contest Berlin
– Das deutsche Finale 2024

Ein Ostwest­fale löst das Ticket für Malmö

Ich hoffe es bleibt so, deswegen wohne ich da!“, so antwor­tete Isaak Guderian auf die Frage, ob es in Espelkamp weiterhin so ruhig bleibt. Liebe Espel­kamper, euer aktuell berühm­tester Bewohner hat aber durchaus einen roten Teppich verdient. Wir hier im Landkreis Diepholz sind in jedem Fall sehr stolz, dass es einer aus unserer Nach­bar­schaft erreicht hat.

Der gebürtige Mindener hat in der Nacht zum vergan­genen Sonnabend eines der höchsten Ziele erreicht, dass man als deutsch­spra­chiger Künstler erreichen kann. Isaak wird am 11. Mai mit dem Song „Always On The Run“ Deutsch­lands Vertreter beim 68. Euro­vi­sion Song Contest 2024 im südschwe­di­schen Malmö sein.

Von der Stra­ßen­musik zur größten Bühne der Welt – welch eine Karriere direkt vor unserer Haustür.

Die Frei­stätter Online Zeitung war drei Tage vor Ort in Berlin-Adlershof, um zum zweiten Mal in Folge den deutschen ESC-Vorent­scheid live vor Ort mitzu­er­leben. Das Auswahl­gre­mium des Nord­deut­schen Rundfunks hat hierbei unter hunderten Sich­tungen und Bewer­bungen 8 Beiträge ermittelt, aus denen der Song am Freitag Abend gewählt wurde, der Deutsch­land aus dem Tabel­len­keller der letzten Jahre nach vorne bringen soll.

Ein neunter Kandidat gesellte sich noch über die TV-Show „Ich will zum ESC“ noch hinzu.

Da unser Magazin nicht das einzige Pres­se­organ vor Ort war, wurde unter Hardcore-Fans aber auch unter Kollegen natürlich laut getu­schelt, wer denn die Qualität mitbringt, um auch Europa mit deutscher Popkultur zu begeistern.

Isaak Guderian – unser sieg­reiche Ostwest­fale – wurde aufgrund seiner mitrei­ßenden Stimme hoch gelobt, galt aber zunächst nicht als Top-Favorit für die Fahrkarte nach Schweden.

Unge­achtet dessen, welchen Stel­len­wert ein Musiker im Vorfeld hatte – ob bereits ESC-erfahren, musi­ka­lisch schon lange im Geschäft oder eben noch der nette Stra­ßen­mu­siker von Nebenan – alle 9 Inter­pre­tinnen, Inter­preten, Bands und Bühnen­be­gleit­per­sonen mussten sich drei Tage lang harten Proben unter­ziehen. Hierbei wurden bereits die unter­schied­lichsten Perfor­mances einstudiert.

Darbie­tungen, die man sich durchaus auch entspre­chend ausge­ar­beitet auf der großen Bühne in Malmö vorstellen kann.

Was gerade in den letzten Jahren ein häufiger Kritik­punkt an den Auftritten der deutschen Teil­nehmer war – hier wurde das Gegenteil bewiesen: Unsere Künstler können eben doch performen und ihren Beitrag auch ange­messen „verkaufen“.

Man gewinnt vor Ort einen großen Respekt vor den Kulis­sen­bauern, die in Windes­eile Umbauten vornehmen müssen. Während der TV-Show war zwar immer ein wenig Zeit, denn zwischen den Auftritten sorgten die humo­ris­ti­schen Mode­ra­tionen von Barbara Schö­ne­berger und ihren Gästen immer für ein paar Minuten Zeit. Wenn man nun weiß, dass beim euro­päi­schen Wett­be­werb genau diese Phase keine 45 Sekunden zwischen zwei Beiträgen dauern darf, ahnt man viel­leicht, unter welchem Druck genau diese „stillen Helden“ stehen müssen.

Der „Spirit“ des ESC

Mary Roos, eine der erfolg­reichsten Sänge­rinnen und eine deutsche ESC-Legende, gehörte zu den Talk­gästen des Vorent­scheids. Sie sagte während der Show „es ist die fried­lichste Veran­stal­tung, die es in ganz Deutsch­land und auf der ganzen Welt gibt“. Dem können wir uns nur anschließen.

Über das heimische TV-Gerät ist sicher auch vom „Spirit“, der vom Song Contest ausgeht, im Ansatz etwas zu spüren. Doch wer vor Ort hinter die Kulissen schauen kann, erlebt genauer, was damit gemeint ist. Natürlich stehen alle unter Anspan­nung, natürlich will jede Künst­lerin und jeder Künstler ein perfektes TV-Erlebnis präsen­tieren. Aber unab­hängig vom Druck, den jeder Einzelne ausge­setzt ist, haben wir nie genervte oder schlecht gelaunte Menschen vor Ort angetroffen.

Als Außen­ste­hender kann man viel­leicht leicht­fertig hinein inter­pre­tieren, „die tun nur alle so, und spielen dem Publikum eine heile Welt vor“. Aber das ist ein Irrtum, denn die positive Haltung bringen beim ESC alle Teil­neh­menden im Herzen mit – es ist so, als würde man für ein paar Tage in eine bessere Welt eintau­chen, und wünscht sich während­dessen: Warum kann es von diesem fried­vollem Umgang nicht viel mehr geben?

Mit ihrer Äußerung hatte Mary Roos den Kern getroffen – aber sie wusste freilich auch schon 1972: „Nur die Liebe lässt uns leben?“. (… so lautete ihr Lied, mit dem sie damals Platz 3 in Edinburgh erreichte)

Auch ich kann bestä­tigen, wie fair es unter den Künstlern zuging. Natürlich, erzählen können die viel. Aber ich saß während der TV-Show nicht weit weg von der Couch, auf der u. a. Max Mutzke auf seinen Auftritt und später auf sein Resultat wartete. Dort konnte jeder in der Halle erleben, wie gerade der Voll­blut­mu­siker, der sich 20 Jahre nach seinem Triumph in Istanbul (mit Platz 8 für „Can´t Wait Until Tonight“) auch für Isaak freute, oder später Leona wegen ihrer über­schau­baren Punk­te­aus­beute tröstete.

So gerne aber auch jeder der neun Kandi­daten das Ticket für Malmö gehabt hätte – es war für jeden schon ein Ereignis, bei hunderten Inter­es­senten zum engeren Kreis dazu zu gehören.

Auf meiner Heimfahrt wurde ich von einem Bekannten darauf ange­spro­chen, wenn alles da so friedlich ist, braucht es dann unbedingt diesen Wettbewerbscharakter?

Klare Antwort, natürlich JA. Denn erst dadurch setzt man sich ganz gezielt mit jedem einzelnen Song ausein­ander. Und – auch das schafft nur eine Veran­stal­tung wie der ESC – durch die Duldung aller Genres setzen sich Menschen mit Musik­stilen ausein­ander, mit denen sie sich im normalen Alltag beim Musik hören niemals ausein­ander setzen würden.

So gesehen bot der ESC Vorent­scheid 2024 „Euro­vi­sion Song Contest – Das Deutsche Finale 2024“ einen unter­halt­samen Mix, wie ihn gewöhn­liche TV-Shows fast nie hinbekommen.

Bei den Unter­hal­tungen zwischen den einzelnen Teil­neh­menden ging es dann auch immer wieder um die Frage, welcher Song am besten als Beitrag geeignet sein könnte, Europa in seinen Bann zu ziehen.

Das dürfte vielen TV-Zuschau­enden und dem privaten Musik­lieb­ha­bern ähnlich ergangen sein: „Ich höre kein Elek­tropop“, „Ich mag keinen Schlager“, „Ich mag keinen Rockpop-Song“ u.s.w. Das hörte man bei diesem Finale zwar auch, aber bei der Beur­tei­lung der Kategorie „Punk­te­sammler für Malmö“ spielte dass keine Rolle.

Nachdem ich mich – wie alle anderen Kollegen vor Ort – durch die vielen Proben einer „zwei­tä­gigen Gehirn­wä­sche“ und das ständige Hören der neun Songs unter­zogen hatte, fanden wir sie Künst­le­rinnen und Künstler am Final-Abend natürlich alle toll. Aber etliche musste man sich auch nicht schön Hören, denn die neun Beiträge waren schon im Vorfeld durchaus vorzeigbar.

Wer machte das Rennen?

Daniel Schmidt, der erste Starter des Abends, und stets mit dem Namen Nine­ty­Nine unterwegs, präsen­tierte einen flotten rockigen Start in den Abend. Auch wenn er mit seinen Band­kol­legen von einer Liebe mit kleinem Budget sang, seine unter­stüt­zende Beglei­tung konnte sich sehen lassen. Zufällig lernte er den Schau­spieler Mathieu Carrière auf einer Zugfahrt kennen, der nach wach­sender Freund­schaft zum Daumen­drü­cken mit nach Berlin gekommen war.

Ganz zart war dagegen der Auftritt von Leona. Sie sang ein fein­füh­liges Chanson über eine vergan­gene Liebe.

Ständig auf der Flucht“, so der deutsche Titel von Isaak: Er trat stimmlich stark die Flucht nach vorne an – und zwar ganz nach vorne, wie wir am Ende des Abends erfahren haben.

Das Popduett Galant zeigte anschlie­ßend, wie viele musi­ka­li­sche Leben eine „Katze“ auch haben kann. Der Song über einen zwei­bei­nigen Stuben­tiger ließ uns Hörer als Elek­tropop-Nummer an die Zeit der Neuen Deutschen Welle denken, es war dabei aber auch eine typischer 90-er Jahre Dance­sound zu erkennen.

Nun war der Moment gekommen, als Rae Garvey und die öster­rei­chi­sche ESC-Siegerin Conchita Wurst auf der Talk-Couch Platz nahmen. Sie waren die Initia­toren der zusätz­li­chen Wildcard-Show „Ich will zum ESC“, bei der ein zusätz­li­cher Song für den Vorent­scheid gesucht wurde.

Gefunden wurde er mit Florian Rößler, der als Floryan mit seinem Casting-Sieger­song „Scars“ ebenfalls Ansprüche für den schwe­di­schen Mai anmeldete.

And The 12 Points From The Nether­lands Goes to …“ Bodine Monet. Mit dieser Trumpf­karte spielten die Song­su­cher bei der aus Haarlem stam­menden Künst­lerin. Während ihre Lands­leute mit Joost Klein ihre Nomi­nie­rung schon fix hatten, versuchte sie mit dem eingän­gigen Song „Tears Like Rain“ über den Auftritt im Studio Adlershof nach Malmö zu kommen.

Rick Juhrte alias Ryk aus Hannover ging nach 2018 erneut in einen deutschen Vorent­scheid, dieses Mal mit sehr großen Vorschuss­lor­beeren. Ein Mann, eine Stimme – drei Minuten lang war die Halle von „Oh Boy“ gefesselt.

Auch Marie Reim war schon bei einem euro­päi­schen ESC vor Ort: Backstage durfte sie 2001 in Kopen­hagen ihren ersten Geburtstag feiern, während Mama Michelle mit „Wer Liebe lebt“ Platz 8 holte. „Den deutschen Schlager habe sie dank der Eltern im Blut“, verriet die Kölnerin. Sie wäre sehr „Naiv“ gewesen, ihr Genre zu verbiegen.

Das tat erst recht nicht Max Mutzke, der das Star­ter­feld abrundete. 20 Jahre nach seiner Entde­ckung für den Song Contest in der Türkei blieb er bis zum heutigen Tag „Forever Strong“ und seine stimm­liche Quali­täten sorgten dafür, dass er seinen Hut behielt und die Zuhö­renden selbigen vor ihm ziehen durften.

Nun galt es, die Favoriten im Saal sowie auf der prominent besetzten Couch ausfindig zu machen, bevor es an das Ergebnis ging. Auf der Couch saßen nämlich neben der erwähnten Grand Prix-Ikone Mary Roos der Show­master Florian Silber­eisen, Moderator Riccardo Simonetti sowie die Sängerin Ally Neumann. Einig war man sich schluss­end­lich in der Sache, dass die gesang­li­chen Stimmen sowie die Songs durch die Bank mehr als eine Empfeh­lung deutscher Musik­kultur sind.

The Winner Takes It All!

Aller­dings, jene, die ihre Meinung vertraten, durften wenige Augen­blicke später erleben, dass sie in der Minder­heit waren. Sowohl die inter­na­tio­nalen Jurys als auch das per Tele­vo­ting abstim­mende Publikum hatten gemein­schaft­lich einen anderen Champion gewählt: Nämlich Isaak Guderian aus Espelkamp. Der holte den ersten Platz in beiden Abstimmungsrunden.

Doch was ist für „Always On The Run“ nun am 11. Mai wirklich möglich?

Deutsche ESC Ergebnisse …

Die vergan­genen Jahre zwingen uns Deutschen viel­leicht einen mehr zurück­hal­tenden Opti­mismus auf – müssen wir so vorsichtig sein?

Viel­leicht sollten wir nicht vorlaut werden, aber müssen wir pessi­mis­tisch werden? Wir haben einen Jungen von Nebenan, wir haben einen Ohrwurm, aber ist der Song zu allgemein?

Sicher, die Konkur­renz schläft nicht, selbst wenn Isaak „No Rules“ aus Finnland schon abfeiert. Und es wird eine Aufgabe, an die hörbaren Schwer­ge­wichte aus Italien, Norwegen oder der Ukraine heran­zu­kommen. Isaak selbst hat mit seinem Ergebnis von Berlin bewiesen, dass er Jurys und Publikum von sich zu über­zeugen weiß. Denn nicht die im Vorfeld favo­ri­sierten Max Mutzke, Bodine Monet, Marie Reim und allen voran der oft genannte Ryk hatten am Ende die Nase vorn.

Authen­ti­zität und Norma­lität, aber auch nicht über­kan­di­delt, so sahen einige ESC-Sieger der Vergan­gen­heit aus, so z.B.: Netta 2018, im Jahr zuvor Salvador Sobral und – Lena, die 2009 zufällig Stefan Raabs Casting-Box betrat, und im Mai 2010 in Oslo siegte.

Bemühen wir doch einmal zwei weitere Statis­tiken. Zum einen gilt es, die deutsche Malmö-Bilanz zu verbes­sern. In Malmö gastiert der Song Contest zum dritten Mal, doch die bishe­rigen Starter in Südschweden (Wind 1992 mit Platz 16 und Cascada 2013 mit Platz 21) reisten leider mit sehr wenigen Punkten wieder nach Hause.

Daneben lässt eine andere Bilanz mehr hoffen: Bei allen Jahr­gängen, bei deren Vorent­schei­dungen Max Mutzke, Ryk und Familie Reim ange­treten sind, kam am Ende ein einstel­liges Ergebnis heraus.

Span­nendes Warten auf Malmö

Eine Bilanz bleibt – die drei Abende, an denen der Euro­vi­sion Song Contest statt­findet, sind Europas größte gemein­schaft­liche Party. Gut abschneiden oder gar gewinnen sind das eine, aber schlecht abschneiden bzw. zu verlieren muss man als Künst­lerin oder als Künstler auch können.

Spiel­ver­derber, die letzteres nicht können, bekommen mit uner­kannten Nicknames und negativen Postings in den sozialen Netz­werken dieses funk­tio­nie­rende Stück Europa nicht klein.

Die, die den ESC lieben, tun das aus gutem Grund: Michelle, die zur Unter­stüt­zung ihrer Tochter in Berlin-Adlershof dabei war, würde dazu viel­leicht singen: „Wer den ESC liebt, ist niemals allein!“

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