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Stra­ßen­zäh­lung als „Nacht der Soli­da­rität“ in Berlin

In Berlin gab es Ende Januar 2020 den Versuchs einer Zählung wohnungs­loser Menschen, der von einer Projekt­gruppe des Senats von Berlin unter­nommen wurde.

Nicht zählen! Bezahl­baren Wohnraum schaffen. Für Alle.

Das ist die konse­quente Forderung der Selbst­ver­tre­tung wohnungs­loser Menschen e. V. aus Anlass dieser Zählung.

Diese Aktion war damit in aller Munde, auch weil sie als „Nacht der Soli­da­rität“ in Berlin bezeichnet wurde. Diesen Slogan wurde zeit­gleich auch zu einer Gegen­de­mons­tra­tion verschie­dener Initia­toren betrof­fener Menschen und einer damit verbun­denen Mahnwache vor dem Roten Rathaus genutzt.

PK zur „Nacht der Solidarität“ in Berlin - Projekt-Logo

Etwa 2.600 extra geschulte Helfer machten sich bei der Zählung am 29. Januar von 22:00 Uhr bis zum 30. Januar um 1:00 Uhr auf den Weg, um Berlins wohnungs­lose Menschen zu ermitteln. In der eisigen Nacht schwärmten sie dazu in Fünfer-Teams aus. Der Senat der Stadt Berlin beab­sich­tigte mit dieser Zählung, die im Haushalt der Stadt Berlin bereit­ge­stellten 9,3 Millionen Euro wirksam einzusetzen.

Die Selbst­ver­tre­tung wohnungs­loser Menschen e. V. hatte zeit­gleich zu einer Gegen­ver­an­stal­tung aufge­rufen und beglei­tete diese Obdach­lo­sen­zäh­lung mit einer Demons­tra­tion und Mahnwache vor dem Roten Rathaus, als Gedenken an die auf der Straße verstor­benen Menschen. Auch betrof­fene Menschen betei­ligten sich an der Mahnwache und kamen dabei selbst zu Wort: Sie forderten bessere Akzeptanz von obdach- und wohnungs­losen Menschen nicht nur in Berlin und das Recht auf eine eigene Wohnung.

PK zur „Nacht der Solidarität“ in Berlin - Podium mit Prof. Susanne Gerull, Senatorin Elke Breitenbach und Projektleiter Klaus-Peter Licht
PK zur „Nacht der Soli­da­rität“ in Berlin – Podium mit Prof. Susanne Gerull, Senatorin Elke Brei­ten­bach und Projekt­leiter Klaus-Peter Licht

Nach erfolgter Zählung präsen­tierten dann am Freitag, den 7. Februar 2020, die Sozi­al­se­na­torin Elke Brei­ten­bach (Partei DIE LINKE), Profes­sorin Susanne Gerull (Armuts­for­scherin der Alice-Salomon-Hoch­schule Berlin) und Klaus-Peter Licht (Projekt­leiter der Zählung) die vorläu­figen Ergeb­nisse zur „Nacht der Soli­da­rität“.

Viele Pres­se­ver­treter vom Fernsehen (u. a. von ZDF, ARD und RBB24) als auch von Print­me­dien (dpa und taz, von regio­nalen Zeitungen und der Frei­stätter Online Zeitung) waren bei diesem Pres­se­termin anwesend.

Nach einlei­tenden Worten von Senatorin Elke Brei­ten­bach erläu­terte Profes­sorin Susanne Gerull den Ablauf der Zählung und deren Methode. Man habe sich für eine Stich­tags­zäh­lung in dieser einen Nacht entschieden, um innerhalb relativ kurzer Zeit beim Zählen Doppe­lungen zu vermeiden.

Gespannt warteten die Anwe­senden auf die ermit­telten Zahlen, denn bislang gab es nur Schät­zungen die sich zwischen 6.000 und 10.000 obdach- und wohnungs­losen Menschen in Berlin bewegten. Im Fokus dieser Zählung standen Fragen nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Dauer der Wohnungs­lo­sig­keit und auch nach Zusam­men­leben auf der Straße.

Aufent­halt in Berlin und Alters­struktur der gezählten obdach­losen Menschen in Berlin
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Insgesamt wurden innerhalb von drei Stunden 1.976 obdach­lose Menschen gezählt, die sich dann wie folgt aufgliederten:

  • 942 Personen befanden sich in den Einrich­tungen der Kälte­hilfe wie Wärme­stuben oder Notübernachtungen
  • 112 Personen wurden in S‑Bahnen angetroffen
  • 46 wohnungs­lose Menschen fanden sich in Bussen oder Stra­ßen­bahnen der BVG
  • 42 Wohnungs­lose hielten sich in der Wärme­stube der Gits­chiner Straße auf
  • 15 Personen befanden sich in einer Rettungs­stelle, um dort Hilfe in Anspruch zu nehmen – denn das Leben auf der Straße macht krank!
  • Dazu befanden noch sich 12 wohnungs­lose Menschen in Polizeigewahrsam

Letzt­end­lich ermit­telten die Zähler 807 wohnungs­lose Menschen, die ihre Tage und Nächte Sommer wie Winter auf der Straße verbringen. Viele von ihnen sind oder werden dabei psychisch krank und benötigen deshalb Hilfe.

Statistik-Torten­dia­gramme zu den gezählten obdach­losen Menschen in Berlin
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Unter den insgesamt gezählten Menschen waren 14 % Frauen und 86 % Männer. Bei den Männern waren mit 29 % der über­wie­gende Teil im Alter zwischen 30 und 39 Jahren und 27 % der männ­li­chen Obdach­losen gehörten zur Alters­gruppe zwischen 40 und 49 Jahren. Von allen Gezählten machten dann 36% bei der zusätz­li­chen Befragung mit.

Inter­es­sant waren auch die Zahlen nach Natio­na­lität: 39 % der gezählten Menschen hatten die deutsche Staats­an­ge­hö­rig­keit, aber 49 % kamen aus dem Raum der euro­päi­schen Union – fast immer, um sich hier im reicheren Land eine neue Existenz aufzubauen.

Die Realität zeigt aber, dass sie mit ihren fast immer prekären Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nissen keine wirkliche Chance haben und in der Regel scheitern. Dabei haben sie dann aber keinerlei Anspruch auf Trans­fer­leis­tungen. Dazu kommen dann noch 11 % gezählter Menschen aus Dritt­län­dern, die sich bei der Zählung in Berlin aufhielten.

Nicht alle der ange­trof­fenen Menschen waren bereit, über sich Auskunft zu geben. Auffällig war auch noch, dass von 288 Befragten 47 % schon länger als drei Jahre obdachlos waren.

In der Rummels­burger Bucht zählte ein zusätz­li­ches Sonder­team der Karuna e. G., von einer Gulasch­ka­none und Feuer­wehr­ka­pelle beim Zählen begleitet. Einige Bewohner fühlten sich von den Zählenden über­rum­pelt, so die Aussage eines Anwe­senden.
Das Zählteam ermit­telte hier 81 obdach­lose Personen.

Regio­naler Überblick der gezählten obdach­losen Menschen in Berlin

In der Rummels­burger Bucht war dann am Tag der Pres­se­kon­fe­renz auch noch eine Räumung zu beklagen: Nach Aussage eines Zelt­be­woh­ners wurden hier etwa 20 Sinti und Roma geräumt. Betrof­fene vermuten, dass die Rummels­burger Bucht nach Ablauf der Kälte­hilfe nach dem 31. März total geräumt werden soll. Das Suchen nach einem geschütztem Schlaf­platz oder Zeltplatz würde dann für viele erneut beginnen, wie ein Zelt­be­wohner resi­gnie­rend bemerkte: „Das nervt!

Am 7. Februar wurden ebenfalls vor dem S‑Bahnhof Lich­ten­berg die Behau­sungen von dort zeit­weilig unter­ge­kom­menen Obdach­losen geräumt. Sie wurden nach Treptow in ein leer stehendes Gebäude der Telekom verfrachtet. Doch diese Unter­kunft entsprach nicht den Erfor­der­nissen der Geräumten, die jetzt nach anderen Möglich­keiten suchen.

„Zusam­men­leben“ auf der Straße? – Zahlen zu den gezählten obdach­losen Menschen in Berlin

Wir ziehen deshalb folgendes Fazit: Wie von den Initia­toren der „Nacht der Soli­da­rität“ befürchtet trägt diese erste Zählung nicht zur Verbes­se­rung der Lebens­um­stände der dabei erfassten Menschen bei. Sie werden weiter mit großer Sorge beob­achten, wie sich die Situation obdach- und wohnungs­loser Menschen in Berlin weiterentwickelt.

PK zur „Nacht der Solidarität“ in Berlin - Prof. Susanne Gerull, Elke Breitenbach und Klaus-Peter Licht planen weitere Aktionen
PK zur „Nacht der Soli­da­rität“ in Berlin – Prof. Susanne Gerull, Elke Brei­ten­bach und Klaus-Peter Licht planen weitere Aktionen

Als weiteres Vorgehen sind deshalb im März und April regionale Workshops mit Exper­tinnen der Wohnungs­lo­sen­hilfe geplant, in denen mit Stra­ßen­so­zi­al­ar­bei­te­rinnen und Vertre­tern von Wohl­fahrts­trä­gern und Bezirks­ämter nach besseren Lösungen gesucht werden soll.

Ende April und im Herbst werden dann noch Fach­ta­gungen und eine Stra­te­gie­kon­fe­renz zur Diskus­sion der Ergeb­nisse statt­finden. Auch hierbei sollen wirksame Hilfen und Maßnahmen zur Linderung der Not von obdach- und wohnungs­losen Menschen disku­tiert, gemeinsam geplant und dann hoffent­lich auch ergriffen werden.

Angebote für wirksame Hilfen in Berlin

Eine Folge­zäh­lung ist für Frühjahr bzw. Sommer 2021 geplant – das Bündnis der Aktion „Nacht der Soli­da­rität“ wird dann auch diese Aktion gebührend begleiten.