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Würde und Verlet­zung der Würde von wohnungs­losen Menschen

Logo Selbstvertretung wohnungsloser Menschen (SWM) e. V.
Logo SWM e. V.

Zwischen­durch sagte ein Teil­nehmer, das Thema „Würde“ sei abend­fül­lend. Es war viel­leicht auch der einzige Moment, in dem man erleich­tert war, dass der Austausch als Online-Konferenz stattfand. Die Corona-Krise forderte auch bei diesem Workshop am 25. März 2021 ihren Tribut und verhin­derte ein persön­li­ches Treffen.

Der Workshop brachte etwa 70 Teil­neh­mende zusammen, die sich an Vorträgen, Diskus­sionen und Grup­pen­ar­beiten zum Thema „Würde und Verlet­zung der Würde von wohnungs­losen Menschen“ zu betei­ligen. Einge­laden zu dieser Veran­stal­tung hatte das Koor­di­nie­rungs­team der Selbst­ver­tre­tung wohnungs­loser Menschen e. V.

Housing-Action-Day 2021 Button (© housing-action-day.net)
© Housing-Action-Day.net

Dirk Dymarski und Dr. Stefan Schneider erin­nerten als Mode­ra­toren des Nach­mit­tags zu Beginn an den bevor­ste­henden Housing Action Day, der zum 27. März 2021 ausge­rufen wurde: Das Akti­ons­bündnis Housing Action Day wurde 2019 von Mietern gegründet, um gegen die Verdrän­gung von Mietern sowie gegen unbe­zahl­bare Mieten öffent­lich zu protes­tieren. Wie schon im Vorjahr fielen die meisten geplanten Veran­stal­tungen aber leider der Pandemie zum Opfer. Das Akti­ons­bündnis muss so auch haupt­säch­lich durch Online-Konfe­renzen für seine Ziele kämpfen.

Schon jetzt ist als direkte Folge der Corona-Krise zu befürchten, dass sich die Armuts­lage in Deutsch­land weiter verschärfen wird, und immer mehr Noch-Mieter in die Gefahr geraten wohnungslos zu werden. Bisherige, aber auch die aktuelle Regierung wenden zu wenige bis überhaupt keine Mittel an, um für eine Kehrt­wende für die Betrof­fenen zu sorgen. Der würde­volle Umgang mit diesen Menschen bleibt dabei voll­kommen auf der Strecke. Erst recht, wenn die Menschen entweder voll­kommen ohne Obdach sind oder nur in Notun­ter­künften geduldet werden. Dabei beginnt Artikel 1 des Grund­ge­setzes mit einem Satz, der genau das ausschließen sollte:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Eine geschicht­liche Darstel­lung, wie sich der würde­volle Umgang mit Menschen in Armut im Laufe der Zeit entwi­ckelt hat, stellte zu Beginn des 2‑stündigen Treffens Prof. Dr. Ralf Stoecker vor, der als Professor für Prak­ti­sche Philo­so­phie an der Univer­sität Bielefeld lehrt. In seinem Vortrag verdeut­lichte er, dass es erst mit der Allge­meinen Erklärung der Menschen­rechte am 10. Dezember 1948 eine fest­ge­legte Umgangs­form mit armen Menschen gebe.

Zuvor, ganz besonders im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land, galten neben den gezielt Verfolgten auch jene, die nicht in die ideo­lo­gi­sche Norm der fana­ti­schen Herr­schaft, zu unter­drü­cken. Das waren in diesen 12 dunkelsten Jahren Deutsch­lands nicht nur Menschen jüdischer Abstam­mung, auch Politisch-anders­den­kende, Homo­se­xu­elle, Menschen mit körper­li­chen Einschrän­kungen – und Wohnungslose.

Mit dem Ende der Schre­ckens­herr­schaft und der Menschen­rechts­er­klä­rung von Paris sollte nun die freie Entfal­tung, und damit die Würde aller Menschen gewähr­leitet werden. In Deutsch­land wurde dann in den drei west­li­chen (von alli­ierten Truppen besetzten) Gebieten am 23. Mai 1949 die Bundes­re­pu­blik Deutsch­land gegründet. Damit trat auch das Grund­ge­setz in Kraft, das sich mit seinem Artikel 1 ebenfalls zu den allge­meinen Menschen­rechten bekennt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Rück­bli­ckend auf die vergan­genen 72 Jahre hat sich viel, ja sehr viel getan im würde­vollen Umgang unter­ein­ander. Politisch haben wir freie Meinungs­äu­ße­rung und freie Wahlen, ebenso können wir unseren Wohnort und Traumjob aussuchen, unsere sexuelle Orien­tie­rung erlaubt uns eine freie Part­ner­wahl – und alles unab­hängig von Religion, Geschlecht und Hautfarbe. Auch körper­liche Beein­träch­ti­gungen spielen keine Rolle mehr. Und jeder hat sein Recht auf Privat­sphäre und einen würde­vollen Umgang.

Doch ist das die tatsäch­liche Realität? Professor Stöcker zählte während seines Vortrags Punkte auf, in denen die Würde eines Menschen erheblich beein­träch­tigt wird. Dazu zählt ein Leben, dass sich gerade am, wenn nicht unter dem Exis­tenz­mi­nimum orien­tiert genauso wie das Erfahren von Zufügens körper­li­chem Leids genauso wie die Ernied­ri­gung sowie die gezielte Verlet­zung der Privat­sphäre. Wohnungs­lose Menschen ertragen diese entwür­di­gende Behand­lung. Sie leiden an exis­ten­zi­eller Unsi­cher­heit, und es fehlt ihnen ein Rückzugsbereich.

In den anschlie­ßenden Arbeits­gruppen wurden diese Miss­stände in der Republik noch detail­lierter bespro­chen, und damit noch deut­li­cher. Eine Gruppe doku­men­tierte u.a. die würdelose Behand­lung durch Behörden, aber auch durch die Polizei. Wer gänzlich ohne Obdach ist, bewegt sich nur noch für jeden sichtbar im öffent­li­chen Raum. Nicht jedem in dieser Lage steht eine Post­adresse zur Verfügung, sanitäre Anlagen sind nur selten vorhanden. Eine weitere Gruppe hielt dagegen, dass Menschen, die auf Notun­ter­künfte ange­wiesen sind, ebenfalls der Herab­wür­di­gung ausge­setzt sind. Simple Dinge wie Matratzen, Sani­tär­an­lagen u. ä. sind hygie­nisch oft sehr bedenklich.

Das Team des Armuts­netz­werks bemän­gelte die Vorgänge in Ämtern und in den Medien. Statt mit den Betrof­fenen zu reden, werde über sie disku­tiert, und damit zum will­kür­li­chen, und nicht immer legalen Spielball der Gesell­schaft. In einer weiteren Gruppe war der würdelose Umgang der Wohnungs­losen unter­ein­ander Diskus­si­ons­thema. Mit der Erkenntnis, dass Menschen, die in die Armut und Wohnungs­lo­sig­keit abrut­schen, den rück­sichts­losen Umgang selbst erfahren und mit zuneh­mender Dauer diesen Umgang mit anderen nach und nach verlernen.

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Natürlich konnte das Forum kein Ergebnis heraus­ar­beiten. Es steht zwar in der Allge­meinen Menschen­rechts­ord­nung und im Grund­ge­setz richtig formu­liert drin. Doch in der Wirk­lich­keit steht der Mensch im Weg. Der Mensch, der hinter dem Schreib­tisch nur nach Akten arbeitet. Der Mensch, der nase­rümp­fend an „Bitte-um-eine-milde-Gabe“-Schilder in der Innen­stadt vorbei­läuft. Der Mensch, der als Immo­bi­li­en­makler sein Bankkonto zum Nachtteil anderer wachsen lässt. Dabei sind es doch die Unter­schiede zu jedem anderen Menschen, die jeden einzelnen von uns inter­es­sant werden lassen. Es steht zwar in Artikel 1, aber für die Umsetzung zum würde­vollen Umgang unter­ein­ander braucht es mehr:

Einen würde­vollen Umgang aller Menschen mitein­ander – ohne Ansehen ihres Vermögens und ihrer damit verbun­denen sozialen Stellung.