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Bremer Tag der Wohnungs­losen 2021

Deutsch­land entdeckt Housing First

Vieles war wie immer, und doch gab es etwas Neues, dass zumindest für Deutsch­land in die richtige Richtung gehen könnte. Bei der Kund­ge­bung zum Tag der Wohnungs­losen auf dem Bremer Markt­platz traten neben Poli­ti­kern und Vertre­tern des Bünd­nisses Menschen­recht auf Wohnen auch Mitglieder einer Orga­ni­sa­tion in der Öffent­lich­keit auf, die für Deutsch­land relativ neu ist. Ganz besonders Moritz Muras, Geschäfts­führer von der Wohnungs­hilfe Bremen ist auf ein Muster­bei­spiel aufmerksam geworden, dass in Finnland mit einem nicht zu unter­schät­zenden gesamt­wirt­schaft­li­chen Vorteil für das Land geworden ist.

Was im hohen Norden Europas mit Erfolg prak­ti­ziert wurde, wird mitt­ler­weile auch in Dänemark, Portugal und teilweise in Frank­reich auspro­biert, und auch hier­zu­lande beginnen immer mehr Menschen, das Model Finnland auch hier zu prak­ti­zieren. Housing First – das bedeutet, mithilfe eines Stufen­plans Lang­zeit­woh­nungs- und Obdach­lose in eine eigene Wohnung zu unter­bringen. Zu den Ergeb­nissen des Projekts zählt, dass die Zahl der Lang­zeit­be­trof­fenen sich um über 30 % verrin­gerte. Notun­ter­künfte wurden entspre­chend weniger, und auch die medi­zi­ni­sche Versor­gung wurde geringer. Nebenbei profi­tiert die gesamte steu­er­zah­lende Bevöl­ke­rung auch davon, dass die staat­li­chen Ausgaben für Betreuung und Unter­stüt­zung spürbar zurück­ge­gangen ist.

Mitt­ler­weile gibt es aber nicht nur in Bremen Ansprech­partner, in einigen größeren Städten setzen sich immer mehr Enga­gierte für das finnische Model ein. Neben Moritz Muras, der bei der Kund­ge­bung genau für dieses Projekt warb, zeigte sich auch Prof. Uwe Gonther sehr inter­es­siert an dieser Thematik. Der Politiker von Bündnis 90 / DIE GRÜNEN, der haupt­be­ruf­lich in der Sucht­be­ra­tung tätig ist, warb auch für ein bedin­gungs­loses Grund­ein­kommen, sowie für den sozialen Wohnungsbau.

Neben dem Professor trat mit Doris Achelwilm eine Rednerin auf, die in knapp zwei Wochen sich um einen Platz bei der Bundes­tags­wahl bewirbt. Die ehemalige Landes­vor­sit­zende der Linken in Bremen wurde in ihrer Darlegung ihrer Zahlen richtig deutlich. So betonte sie, dass 39 % der Wohnungen in Bremen, für die derzeit Miete bezahlt würden, sich in einem wohnungs­un­wür­digen Zustand befinden. Von einem bundes­weiten Polit­wechsel erhofft sie sich, der aus ihrer Sicht politisch gemachten Immo­bi­li­en­po­litik mit damit verbun­denen arbeit­neh­mer­feind­li­chen Miet­stei­ge­rungen die Stirn zu bieten.

Frau Achelwilm erinnerte die Zuhörer an den Artikel 14 der Bremer Landes­ver­fas­sung. Dieser bezieht sich auf das Recht auf eine ange­mes­sene, eigene Wohnung, sowie die damit verbun­dene Aufgabe von Staat und Bürger­schaft und die Anspruchs­ver­wirk­li­chung für Bremer Bürger. Eine fort­wäh­rende, unver­schul­dete Wohnungs­lo­sig­keit bezeich­nete die Poli­ti­kerin als Menschen­rechts­ver­let­zung. Über 1 Millionen Menschen sind in Deutsch­land mitt­ler­weile von Wohnungs­lo­sig­keit betroffen und die andau­ernde Corona-Pandemie werde dass mit der jetzigen Regierung gar noch verschärfen.

Vertreter der CDU, SPD sowie der FDP glänzten voll­ständig durch Abwe­sen­heit: Oder ist gar der Begriff Desin­ter­esse passender? Das würde auch erklären, warum in den Wahl­pro­grammen dieser Parteien nicht ein Wort zur Armuts­be­kämp­fung steht. Für die Zukunft müssen sich diese soge­nannten Volks­par­teien aber mehr einfallen lassen, um dem Steu­er­zahler weiterhin Kosten aufzu­bürden, um die Situation der Betrof­fenen wenigs­tens ein bisschen zu lindern. Die, die von ihrem Einkommen stets die erhöhten Mieten aufbringen, bezahlen mit ihren Steuern zusätz­lich Unter­künfte, Trans­fer­leis­tungen sowie die darin enthal­tenen Verwaltungskosten.

Apropos Unter­künfte: Markus Urban, ebenfalls vom Bündnis Menschen­recht auf Wohnen, erzählte von Forde­rungen von Menschen, die dort unter­ge­bracht sind. U.a. fehlt den meisten die Privat­sphäre und der Zugang zu sanitären Anlagen. Überhaupt nehmen es die, die solche Unter­brin­gungen zur Verfügung stellen, mit der Sauber­keit nicht sehr genau. Auch Urban unter­stützt die Akti­vi­täten von Housing First.

In weiteren Reden wurden die Probleme von wohnungs­losen Frauen sowie von betrof­fenen Menschen mit körper­li­chen Einschrän­kungen erwähnt. Gerade Frauen wurde während der Lockdowns wegen der Corona-Krise der Zugang zu Frau­en­häu­sern und ähnlichen Einrich­tungen erschwert. Die häusliche Gewalt stieg um circa 20% während der Pandemie – zumindest laut den Zahlen, die man anhand der abge­setzten Notrufe beziffern konnte. Anders bei Menschen mit Behin­de­rungen; laut Bettina Fenzl fehlt hier den Betrof­fenen die nötige medi­zi­ni­sche Betreuung.

Der 11. September 2021 ist vorbei, und mit ihm der Tag der Wohnungs­losen Menschen. Geblieben sind die Probleme. Und die Wohnungs­lo­sig­keit. Wohnungs­lose und Wohnungs­lo­sig­keit sind aber nicht nur die Probleme von Wohnungs­losen. Das Problem nicht anzugehen ist fahr­lässig – und gefähr­lich. Nicht nur für die, die wohnungslos sind. Denn so lange, wie das nur die Wohnungs­losen selbst wissen, wird das Problem nicht kleiner.