Wir wollen den Teufel ja mal nicht an die Wand malen, aber grundsätzlich gratuliert man ja niemandem zum Geburtstag, wenn das Wiegenfest selbst noch ansteht. In Minden reden alle nach dem 22:21 Sieg der GWD gegen den HC Erlangen vom Klassenerhalt. Unsere journalistischen Kollegen verwenden alle die Formel, Klassenerhalt so gut wie. Ja, was stimmt denn nun.
Am Sonntag stellt sich folgendes Schreckensszenario dar: die GWD unterliegt in ihrem letzten Saisonspiel in Wetzlar mit 20:40. Selbst in diesem Falle benötigt der letzte Rivale um den Ligaverbleib aus Balingen einen Sieg in Erlangen mit 22 Treffern Unterschied. Praktisch und theoretisch ja machbar, aber ist es real so zu denken? Zweckpessimisten hatten am gestrigen Donnerstag nach Spielschluss ohnehin keine Möglichkeit, Zweifel anzubringen. Keiner, der vom packenden Spielverlauf am vorentscheidenden 33. Spieltag in der KAMPA-Halle dabei war, will daran glauben, dass das winzige Schlupflöchlein Klassenerhalt doch noch die ganze Wand aufreist.
Die gesamte GWD Minden tanzte Klassenerhaltsfeiern; auf dem Feld wie auf den Rängen. Erlangens Trainer Raul Alonso gratulierte in der anschließenden Pressekonferenz seinem Kollegen Frank Carstens für die fantastische Aufholjagd der Ostwestfalen, die mit dem 12. Spieltag begann, als in dieser Spielteit erstmals gepunktet werden konnte. Zu den Gratulanten gehörten in den Social-Media-Netzwerken ehemalige Spieler wie Christoffer Rambo oder Kevin Gulliksen. Nur wir, die manchmal unbequeme Presse, hält sich zurück. Sind Journalisten etwa die wahren Spielverderber?
Vor dem 34. Spieltag hat Dankersen gegenüber Balingen nun 2 Punkte Vorsprung. Diesen Rückstand könnten die Süddeutschen aus dem Zollernalbkreis tatsächlich egalisieren; jedoch müssten die tapferen Baden-Württemberger noch zusätzlich eine Tordifferenz von 42 aufholen. Genau das mag sich keiner vorstellen wollen. Erst recht nicht nach dem Auftritt der Erlanger in Minden, denn Wettbewerbsverzerrung betreiben die Mittelfranken nicht. Deswegen sagen wir Herzlichen Glückwunsch zum Klassenerhalt de facto. Auch uns fehlt die Fantasie, dass die Grün-Weißen den Nervenkrieg Abstiegskampf 2021/2022 doch noch an die Wand fahren.
Die Vorrausetzungen für diesen entscheidenden Kampf waren gut bis fast gut. Über 2.000 Vorbestellungen für dieses Duell lagen vor, dass Interesse der Mindener am Bundesliga-Handball existiert nach wie vor. Am Donnerstag selbst waren beide Teams punktgleich. Auch deshalb, weil die Berliner Füchse am Vorabend ihre Mithilfe nut zur Hälfte geleistet haben, und nur einen statt der zwei erhofften Punkte aus Balingen mitgenommen haben. Im Siegesfaller der Hauptstädter wäre nach Grün-Weißen Erfolg jede Rechnerei am späten Donnerstag überflüssig gewesen. Somit bleibt aus Balinger Sicht ein letzter kleiner Funke, den man vor lauter Asche nicht sieht.
Jedoch scheint Balingen selbst nicht mehr daran zu glauben. Wir freuen uns natürlich für die GWD, dennoch zollen wir auch den Teams aus Lübbecke und Balingen Respekt. Mit Lübbecke verliert Ostwestfalen zwei tolle Derbys, und Balingen war in seinen 3 Jahren Erstklassigkeit in den seltensten Fällen ein leichter Gegner. Wir wünschen beiden Teams und ihren Anhängern alles Gute, und vielleicht stellt sich in der 2. Bundesliga auch bald wieder die Aufstiegschance ein.
Abschließend wurde es in der immer noch vollen KAMPA-Halle sentimental. Traditionell werden am letzten Spieltag jene Spieler verabschiedet, die in der Saison 2022/2023 nicht mehr für die GWD Minden auf Punktejagd gehen. Bei 12 Akteuren läuft zum 30. Juni regulär der Vertrag aus. Joshua Thiele und Alexej Demerza wechseln zu tieferklassigen Vereinen, aber bei Miro Schluroff, Lucas Meister und Carsten Lichtlein besteht ja die Chance, sie als Kontrahenten anderer Erstligisten wieder begrüßen zu dürfen.
Mit dem Sonntag endet auch die Saison 2021/2022. Die Mannschaften gehen, bevor es dann wieder in die Vorbereitung geht, wirklich in den Urlaub. Auch die Nationalspieler, von denen einige zu Saisonbeginn durch die Olympischen Sommerspiele eine verkürzte Erholungsphase hatten. Erholung, das werden sie in Minden nach der kolossalen Aufholjagd richtig nötig haben, vor allem nach einem tiefen und erleichterten Durchatmen. Im Umfeld der Fans gab es des Öfteren Resignation, weil mitunter der Glaube verloren gegangen war, die Hanball-Bundesliga in Minden erhalten zu können. Zugegeben, auch wir haben hin und wieder mal gezweifelt. Aber ob Profisport oder Wohnungslosigkeit – wer aufgibt, der bleibt unten. Die GWD Minden darf die zurückliegende Spielzeit als etwas ganz Besonderes ansehen.
Fotos & Text.: Hari