Deutschland entdeckt Housing First
Vieles war wie immer, und doch gab es etwas Neues, dass zumindest für Deutschland in die richtige Richtung gehen könnte. Bei der Kundgebung zum Tag der Wohnungslosen auf dem Bremer Marktplatz traten neben Politikern und Vertretern des Bündnisses Menschenrecht auf Wohnen auch Mitglieder einer Organisation in der Öffentlichkeit auf, die für Deutschland relativ neu ist. Ganz besonders Moritz Muras, Geschäftsführer von der Wohnungshilfe Bremen ist auf ein Musterbeispiel aufmerksam geworden, dass in Finnland mit einem nicht zu unterschätzenden gesamtwirtschaftlichen Vorteil für das Land geworden ist.
Was im hohen Norden Europas mit Erfolg praktiziert wurde, wird mittlerweile auch in Dänemark, Portugal und teilweise in Frankreich ausprobiert, und auch hierzulande beginnen immer mehr Menschen, das Model Finnland auch hier zu praktizieren. Housing First – das bedeutet, mithilfe eines Stufenplans Langzeitwohnungs- und Obdachlose in eine eigene Wohnung zu unterbringen. Zu den Ergebnissen des Projekts zählt, dass die Zahl der Langzeitbetroffenen sich um über 30 % verringerte. Notunterkünfte wurden entsprechend weniger, und auch die medizinische Versorgung wurde geringer. Nebenbei profitiert die gesamte steuerzahlende Bevölkerung auch davon, dass die staatlichen Ausgaben für Betreuung und Unterstützung spürbar zurückgegangen ist.
Mittlerweile gibt es aber nicht nur in Bremen Ansprechpartner, in einigen größeren Städten setzen sich immer mehr Engagierte für das finnische Model ein. Neben Moritz Muras, der bei der Kundgebung genau für dieses Projekt warb, zeigte sich auch Prof. Uwe Gonther sehr interessiert an dieser Thematik. Der Politiker von Bündnis 90 / DIE GRÜNEN, der hauptberuflich in der Suchtberatung tätig ist, warb auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen, sowie für den sozialen Wohnungsbau.
Neben dem Professor trat mit Doris Achelwilm eine Rednerin auf, die in knapp zwei Wochen sich um einen Platz bei der Bundestagswahl bewirbt. Die ehemalige Landesvorsitzende der Linken in Bremen wurde in ihrer Darlegung ihrer Zahlen richtig deutlich. So betonte sie, dass 39 % der Wohnungen in Bremen, für die derzeit Miete bezahlt würden, sich in einem wohnungsunwürdigen Zustand befinden. Von einem bundesweiten Politwechsel erhofft sie sich, der aus ihrer Sicht politisch gemachten Immobilienpolitik mit damit verbundenen arbeitnehmerfeindlichen Mietsteigerungen die Stirn zu bieten.
Frau Achelwilm erinnerte die Zuhörer an den Artikel 14 der Bremer Landesverfassung. Dieser bezieht sich auf das Recht auf eine angemessene, eigene Wohnung, sowie die damit verbundene Aufgabe von Staat und Bürgerschaft und die Anspruchsverwirklichung für Bremer Bürger. Eine fortwährende, unverschuldete Wohnungslosigkeit bezeichnete die Politikerin als Menschenrechtsverletzung. Über 1 Millionen Menschen sind in Deutschland mittlerweile von Wohnungslosigkeit betroffen und die andauernde Corona-Pandemie werde dass mit der jetzigen Regierung gar noch verschärfen.
Vertreter der CDU, SPD sowie der FDP glänzten vollständig durch Abwesenheit: Oder ist gar der Begriff Desinteresse passender? Das würde auch erklären, warum in den Wahlprogrammen dieser Parteien nicht ein Wort zur Armutsbekämpfung steht. Für die Zukunft müssen sich diese sogenannten Volksparteien aber mehr einfallen lassen, um dem Steuerzahler weiterhin Kosten aufzubürden, um die Situation der Betroffenen wenigstens ein bisschen zu lindern. Die, die von ihrem Einkommen stets die erhöhten Mieten aufbringen, bezahlen mit ihren Steuern zusätzlich Unterkünfte, Transferleistungen sowie die darin enthaltenen Verwaltungskosten.
Apropos Unterkünfte: Markus Urban, ebenfalls vom Bündnis Menschenrecht auf Wohnen, erzählte von Forderungen von Menschen, die dort untergebracht sind. U.a. fehlt den meisten die Privatsphäre und der Zugang zu sanitären Anlagen. Überhaupt nehmen es die, die solche Unterbringungen zur Verfügung stellen, mit der Sauberkeit nicht sehr genau. Auch Urban unterstützt die Aktivitäten von Housing First.
In weiteren Reden wurden die Probleme von wohnungslosen Frauen sowie von betroffenen Menschen mit körperlichen Einschränkungen erwähnt. Gerade Frauen wurde während der Lockdowns wegen der Corona-Krise der Zugang zu Frauenhäusern und ähnlichen Einrichtungen erschwert. Die häusliche Gewalt stieg um circa 20% während der Pandemie – zumindest laut den Zahlen, die man anhand der abgesetzten Notrufe beziffern konnte. Anders bei Menschen mit Behinderungen; laut Bettina Fenzl fehlt hier den Betroffenen die nötige medizinische Betreuung.
Der 11. September 2021 ist vorbei, und mit ihm der Tag der Wohnungslosen Menschen. Geblieben sind die Probleme. Und die Wohnungslosigkeit. Wohnungslose und Wohnungslosigkeit sind aber nicht nur die Probleme von Wohnungslosen. Das Problem nicht anzugehen ist fahrlässig – und gefährlich. Nicht nur für die, die wohnungslos sind. Denn so lange, wie das nur die Wohnungslosen selbst wissen, wird das Problem nicht kleiner.