Unsere Redaktion gibt in der Rubrik „Sommercamp Freistatt 2016“ den Tagesreportern der im Sommercamp gegründeten Schreibgruppe die Möglichkeit von ihren Beobachtungen und Erfahrungen bei den vielfältigen Veranstaltungen zu berichten.
Heute lest ihr einen Bericht über den Workshop „Berbertreffen vor 25 Jahren“ vom Sommercamp Freistatt:
Montagmittag auf dem Sommercamp der Wohnungslosen in Freistatt: Nach der Führung durch den Ort, „Bethel im Norden“, ein Einrichtungskomplex der von Bodelschwinghschen Stiftungen – es ist schön hier, alte Bäume, interessante Architektur – ist ein Vortrag mit Film über das Berbertreffen 1991 in Uelzen angesetzt.
Ich betrete relativ nichtsahnend den Raum. Wir setzen uns, und ein älterer Mann wird vorgestellt: „Das ist Willi Drucker, der 1991 das Berbertreffen initiiert hat.
Nach dem Vortrag, den Willi Drucker hält und dem Film, der einen Eindruck des Ereignisses und auch des Umgangs der Medien und der Gesellschaft der Neunzigerjahre mit der Thematik Wohnungslosigkeit vermittelt, beginnt eine leidenschaftliche Diskussion der Seminarteilnehmer.
Viele haben Straßenerfahrung. Wir werden langsam warm und uns über die eigentliche Wichtigkeit des gerade stattfindenden Treffens bewusst. Zum besseren Verständnis: Das erste Treffen wohnungsloser Menschen fand 1929, das zweite 1981 in Stuttgart statt. Das dritte Treffen war 1991 in Uelzen mit circa 250 bis 300 Teilnehmern, und der Organisator des letzten sitzt jetzt unter uns!
Daraus folgt: Unser schönes Sommercamp könnte Geschichte schreiben. Ich persönlich finde, es ist an der Zeit! Zwei weitere Camps sind in Planung, die Gelder sind bereits akquiriert.
Am Abend bekomme ich Gelegenheit, mich noch einmal ausführlich mit Willi Drucker zu unterhalten. Ich bin überrascht, ob der Tatsache, dass Willi schon achtzig Jahre alt ist. Er sagt von sich selbst, dass er keinen Beruf erlernt hat. Er schlug sich als Gelegenheitsarbeiter durchs Leben. Später arbeitete er als Fotograf und Lehrer. Mitte der Siebzigerjahre entdeckte er seine Leidenschaft für den Buchdruck im Stile Gutenbergs, dem Bleisatz.
Auf der Minipressenmesse 1987 in Mainz entstand die Idee „Typomania“, ein Treffen für Handpressendrucker, deren Zahl seit damals zwischen 15 und 18 Druckerinnen und Druckern beträgt. In diesem Jahr fand die dreißigste Typomania im einmaligen Ambiente in einem alten Wasserturm statt, der in Willis Kindertagen von der Bahn in Uelzen errichtet und von ihm Mitte der Achtzigerjahre erstanden wurde. Ein Teilnehmer des diesjährigen Sommercamps erzählte, dass er in den Neunzigerjahren sogar einmal dort übernachtete.
Die Druckerei an sich ist bereits seit Ende der Siebzigerjahre in Willis Besitz und zog vom Bauernhof ins Schulgebäude und dann in den ehemaligen Wasserturm der Bahn. Zum letzten Umzug führte ein Disput des Studiendirektors mit den Schülern, die in der Druckerei arbeiteten und den Willi wohl nie vergessen wird. Hier kommt genau der Gerechtigkeitssinn zum Tragen, der ihn dazu veranlasste, eine politische und satirische Postkarte zu drucken, die die Stadt Uelzen in Unruhe versetzte …
Studiendirektor: „In der Druckerei darf nur handwerklich, nicht inhaltlich gearbeitet werden:“
Schüler 1: „Was dürfen wir drucken?“
Studiendirektor: „Briefpapier und Visitenkarten.“
Schüler 2: „Darf man auch Gedichte drucken?“
Studiendirektor: „Ja. Aber die Zahl der Druckexemplare darf die Zahl der Freunde des Druckers nicht übersteigen.“
Schüler 3: „Ich habe 40 Freunde.“
Studiendirektor: „Das geht nicht. Man kann höchstens acht Freunde haben, ich habe nur vier.“
Die Stadt Uelzen, die die Druckerei kaufen wollte, trat daraufhin vom Kauf zurück.
Ein knappes Jahrzehnt später wollte die Stadt Uelzen dann ein Gesetz erlassen, das den Konsum von Alkohol einzig in den offiziellen Schankstätten zulassen sollte und nicht in der Öffentlichkeit. Dies veranlasste Willi zum Druck der besagten Postkarte.
Und nicht nur das! Die Idee zum Berbertreffen war geboren.
.
.
P.S.: Jens (… von der Redaktion der Freistätter Online Zeitung, die den obigen Beitrag online veröffentlicht hat):
Meine zwei Lieblingsdrucke aus der Beispielmappe von Willi Drucker möchte ich euch auch nicht vorenthalten:
1) Ein schon fast historischer Druck – auch heute wieder brandaktuell?
„Was darf Karikatur im Europa des 21. Jahrhunderts zeigen?“
2) Eine Ankündigung eines "Justiz-Politikums" (?) in Lüneburg …
Penner Sebastian Bleis Justiz-Politikum April 1993
(… ist das vielleicht auch als eine Hommage an Otto Dix gedacht?)