Kann Musik die Welt verändern? Vielleicht ist ja diese Erwartung etwas zu hoch gegriffen, aber schön wäre es, wenn sie wenigstens etwas bewegt. Und noch mehr, wenn sie Menschen, die sie berührt, für eine tolerantere Gesellschaft bewegt. Genau 52 Wochen nach der Weserbeatz-Première in 2017 wagte Nienburg sich am zweiten August-Samstag an die nächste Ausgabe, und wollte – so das Motto, "Nazis aus dem Takt bringen".
Knappe 11 Stunden lang wurde hierfür ein Open Air-Programm, eingebettet in einen volksfestähnlichen Rahmen, präsentiert. Natürlich vornehmlich zur Unterhaltung, ohne dabei das Motto aus dem Sinn zu verlieren. Recht so, denn gerade Musik schafft es immer wieder, Grenzen zu überwinden. Diesmal auch mit der Unterstützung der ersten Nienburger Street Food Meile, die mit internationalen Spezialitäten auch für kulinarische Vielfalt sorgte. Diesmal übrigens auf dem Nienburger Festplatz.
Pünktlich um 13 Uhr wurde die Bühne freigegeben. Zum Nienburger Mittagsmenu gab es ein bayerisches Festmahl. Die 4 Münchner der Band Still Awake sorgten dafür, dass das Publikum die Band beinahe in Wide Awake umbenannt hätte, denn natürlich waren alle schon wach. Der weite Weg der ersten Band hat sich sowohl für die Süddeutschen als auch für die Zuhörer gelohnt.
Mitreissender Metal-Opera-Sound, dazu eine geniale One-Woman-Show. Natürlich benötigte Timea die genialen Riffs ihrer männlichen Bühnenbegleiter. Aber was die Leadsängerin stimmlich und optisch von sich gab – die Bühnenpräsenz scheint ihr im Blut zu liegen.
Es war ein rundum gelungener Auftakt für eine gelungene Veranstaltung. Der nächste Programmpunkt verstörte aber etliche Zuhörer. Andreas Wetzig alias Krawalli war als Comedian und Jongleur angekündigt. Doch bei dieser Art von Humor blieb den meisten Besuchern der Nachtisch im Halse stecken. Es wurde zwar schon deutlich, dass Wetzig sich gegen rechtes Gedankengut positionierte, aber muss das derartig hasserfüllt grölend sein?
Zumindest darf darüber nachgedacht werden, ob es bei einer Veranstaltung, die für mehr Toleranz untereinander wirbt, einen Auftritt braucht, bei dem der Protagonist mit angeblich vergammelten Kartoffeln rumwirft und sie zertrampelt. Benötigt ein Humorist Ausflüge in eine hasserfüllte, vulgäre und fäkale Sprache, obwohl sich Kinder und Jugendliche an der Bühne aufhalten? Wirklich gelacht hat vor der Bühne keiner, Humor ist eben sowohl Ansichts- als auch Geschmackssache.
Nach diesem Auftritt kam zum Glück ein erholsamer Gegensatz. Ein 23-jähriger Nienburger betrat mit selbstkomponierten Texten die Bühne. Hinter Timnähtkleider, ja er heißt wirklich so, verbirgt sich ein unkomplizierter junger Mann mit klarer Aussage.
In seinen deutschsprachigen Songs lebt er nach eigener Aussage ein wenig seine Welt aus. Seine Inhalte sind vor allem ehrlich, voll von Sehnsüchten, aber nicht ohne ein wenig Zynismus, über das, was ihm missfällt. Auch seine Heimatstadt Nienburg blieb in einem Lied von Kritik nicht verschont. Übrigens – in einem gemeinsamen Gespräch war er sehr offen und mitteolsam. Eines wollte der Künstler jedoch nicht verraten – seinen richtigen Namen. Nur soviel: Er heißt noch nicht mal Tim – Kompliment an einen selbstbewussten jungen Sänger.
Ein musikalisch hochbegabtes Trio aus Oldenburg zeigte als nächstes seine ungeheure Vielfalt. Eingängiger Sound mit punkigen Einflüßen, das ist das Salz der Suppe von Mosaikh. Die Besucher der Festivalwiese ließen sich mitreißen, die drei boten Songs, die auch ein wenig zum Träumen einluden.
Natürlich hatte jeder eine Meinung zu der Band. Was die einen für eine etwas zu statische Bühnenperformance nannten. bezeichneten Freunde des besonderen Klangs eine konzentrierte Leistung. Für die Band, die sich ebenfalls gegen rechtes Gedankengut aussprach, war es auch die Gelegenheit, ihr aktuelles Album „oneiroi“ zu präsentieren.
Ein Trio kommt selten allein, dafür kommt nun aber eine klare Ansage gegen Rechts. Mosche & Co. nennen sich zwar Band ohne Anspruch, erheben aber selbigen, um klar auszusprechen, was sie von menschenverachtenden Thesen halten. Die Devise des 2000 gegründeten Trios aus Hannover: Nur miteinander macht die Party Spaß, dabei ist es doch egal, wer wie ist, woran er glaubt oder wo er herkommt.
Und beim Party machen sind die Jungs von der Leine ebenso deutlich. Den Alarm, den die drei auf der Bühne ausüben, dem kann sich so recht kaum einer entziehen. Dabei hatten sie keinen so leichten Stand, denn den Beginn ihres Auftritts hatte das Publikums nicht an der Bühne, sondern dem Regen ausweichend unter Überdachungen mitgefeiert. Ihre Dreiviertelstunde mit Anleihen aus Songs vom legendären Falco, vor allem aber ihr mitreissender Fun-Punk, war derartig kurzweilig, dass selbst die Sonne wieder zum Vorschein kam.
Poetry Slam – so nannte sich der folgende Programmpunkt, und das ist eigentlich ein Wettbewerb. Normalerweise sind es die Vortragenden gewohnt, ihre selbstgeschriebenen Texte bei Wettkämpfen in einer gewissen Zeit rasant und mit Hang zur Selbstdartstellung vorzutragen. Die 21-jährige Elona Begiraj aus Verden hat bereits vor drei Jahren an so einer Veranstaltung teilgenommen.
Am Festival-Samstag hatte sie mehrere Gegner – und eigentlich doch keinen. Die junge Frau, deren schönen Namen sie ihrem albanischen Vater zu verdanken hat, musste lediglich das immer zahlreichere Publikum inhaltlich überzeugen. Ihre poetischen Zeilen waren geprägt davon, wie sehr wir alle von einer grenzenlosen Freiheit profitieren.
Und, wer ehrlich gesagt, will sich hierzulande schon ein Leben ohne Coffee to go, ohne Pizza und ohne Jeans vorstellen. Die Vorstellung von Fräulein Begiraj war gelungen. Zwei Vorträge, bei der sie auch ohne Wettkampf als Siegerin der Herzen angesehen werden darf.
Um 17 Uhr 15 sorgten Sarkast dafür, dass der Boden des Festplatzes politisch korrekt bebte. Vor sechs Jahren gegründet, seit fünf Jahren ein Quartett, betonte Leadsänger Dan während der Songs immer wieder, wie wertvoll jede freie Meinungsäußerung sei, so laut sie auch sein möge.
Seine Ansichten drückt er genauso stark aus wie seinen Hang zum konsequenten Mitmachen. Dazu lud die aggressive und progressive Crustcore-Band dann auch mit Macht und Sound ein. Zum klassischen Stagediven hat es aber dann doch mangels Publikumsmasse nicht ganz gereicht. Zum Stage-Rutschen (eine ganz neue Open-Air-Disziplin) schon.
Es geschah 1991 in Bremervörde, da gründeten drei Hamburger Schüler eine Punkrockband namens Expand. Das Trio, das vor zwei Jahren seine musikalische silberne Hochzeit feierte, trägt mittlerweile Silber in den Haaren. Das Publikum schätzte dafür umso mehr die Routine der Rocker.
Mittlerweile schätzen sie auch klassischen Grunge, den sie in ihrem Sound eingebaut haben. Diese wuchtige Musik, so sagten sie, braucht aber melodischen Gesang, sonst könne man so lange gar nicht als Band bestehen. Der gelungene Auftritt von Expand unterstrich dann durchaus die Qualität dieses Trios.
Das Weserbeatz 2018 in Nienburg drang kurz vor 19:00 Uhr stilistisch in ganz neue Bereiche vor. Denn mit Spezial K stand nun Hip Hop auf dem Programm. Nach sehr vielen Rockelementen war es für die Freunde handgemachter Musik sicherlich erstmal eine Umgewöhnung, das zur akustischen Verstärkung ein Laptop auf der Bühne stand. Da aber an diesem Tag auf der Festivalwiese die gegenseitige Toleranz an erster Stelle stand, hatten die Allerwenigsten ein Problem damit.
Erst recht nicht, als sie die Botschaften des Nürnbergers vernahmen. Seine Texte richteten sich auch gegen den Kapitalismus unserer Gesellschaft, aber auch die Angst des täglichen Scheiterns. „Verliere nie den Mut und Hunger im Leben“, hieß es in einem seiner Songtexte. Seine Musik verstärkte er zum Teil mit sehr düsteren Beats, die seine Botschaften verdeutlichten. Seine Teilnahme am Weserbeatz Festival erhöhte die Vielfalt, und auch das ist ja ein Thema der Veranstaltung.
Die Niederlande waren ja 2018 nicht bei der Fußball-WM vertreten, dafür aber beim Weserbeatz in Nienburg – und wie.
Zur Sandmännchenzeit kamen aus Nijmegen Antillectual. Bei der Nähe zum närrischen Niederrhein war man ein wenig auf Show eingestellt, aber das Gezeigte übertraf alle Erwartungen.
Das Trio, das schon beim Festival in Visbek sich in bester Laune präsentierte, sorgte für beste Samstagabend-Unterhaltung. Die Punkband sorgte für lautstarke, deftige Stimmung beim Partyvolk. Die musikalische Leistung war das eine, was aber Leadsänger Toon auf der Bühne veranstaltete, riss auch den Letzten vom Gartenstuhl. Toon, der erst vor vier Jahren zur Band gekommen ist, nutzte die komplette Bühnenfläche für eine geniale und verrückte Show.
Als es gegen 21:00 Uhr auch an diesem Augustabend so langsam dunkel wurde, ging für viele Fans des Rap das Bühnenlicht so richtig an. Schon seit Jahren engagiert sich Sookee gegen Homophobie und Sexismus in der Rapszene, sowie gegen Rassismus. Klischees liegen Nora Hantzsch, wie sie bürgerlich heißt, überhaupt nicht.
So vertritt sie lautstark ihre Meinung und war im März 2017 bereits mit ihrem achten Album „Mortem & Make-Up“ erstmals in den Top-100 der deutschen Charts vertreten. In ihren Songs widersetzt sie sich gerne frauenfeindlichen Thesen, die ihre Rapperkollegen gerne in bedenklicher Form von sich geben. Deshalb trug sie dem Publikum ihre Rapmusik mit linken Texten um so engagierter vor und fand so viele begeisterte Zuhörende.
Anschließend betrat die Bremer Alternative-Rock-Band ANNE.FÜR.SICH die Bühne, die noch richtig in den Startlöchern ihrer Karriere stecken. Nun ist der Musikstil gewiss nichts Neues. Ungewöhnlich neben ihrer eingängigen Melodik bei sehr harten Rhythmen war jedoch, gerade mit deutschen Texten eine begeisterte Zuhörerschar zu finden.
Das Quartett aus der Hansestadt um Leadsänger Marian gibt zu, das Erfolg nur dann entstehen kann, wenn jeder zu 100% an das, was man auf der Bühne für das Publikum vorbringt, auch glaube. Die Zeit kann ganz schön schnell verfliegen, denn es ist viel passiert seit Ostersamstag – an jenem 31. März traten sie im Sulinger JOZZ auf. Und mit jedem weiteren Auftritt wächst nach unserem Eindruck bei dieser Band die Hörerschar.
Apropos Zeit – ANNE.FÜR.SICH waren beim Nienburger Weserbeatz 2018 dann auch schon der finale Act.
Der Samstag ging, und mit ihr die Veranstalter, die Musiker sowie das Publikum. Und bald auch sämtliche Helferinnen und Helfer, Standbetreiber und Organisatoren. Was geblieben ist, ist die Erkenntnis, das die Welt lebenswerter ohne Vorurteile ist. Während der Umbaupausen gab es Interviews, u.a. mit Vertretern von ver.di, Antifa, MideA, der IG Metall, des DGB und vielen mehr. Nicht nur der rechte Hass auf Menschen aus anderen Kulturen bereitet den Initiativen Sorgen.
Mehrfach wurde betont, die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen trage zur Vielfältigkeit unserer Gesellschaft bei. Es gab in der Vergangenheit des öfter einmal verbale oder tätliche Angriffe u. a. auch auf Homosexuelle oder Wohnungslose. Während des Weserbeatz 2018 wurde stets verdeutlicht, wie viel Spaß es macht, mit unterschiedlichen Menschen trotzdem eine Gemeinschaft zu bilden, um gemeinsam zu feiern. Wenn diese Botschaften die Besucher auf den Heimweg mit begleiten, dann hat sich das Festival doppelt gelohnt.