Wahlrecht für Obdach- und Wohnungslose
Bei der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021 werden nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes im Bundesgebiet etwa 60,4 Millionen Deutsche wahlberechtigt sein, davon 31,2 Millionen Frauen und 29,2 Millionen Männer. Wie der Bundeswahlleiter weiter mitteilt, ist die Zahl der Wahlberechtigten damit voraussichtlich geringer als bei der Bundestagswahl 2017. Damals waren rund 61,7 Millionen Personen wahlberechtigt gewesen.
Eine Gruppe von Wählern hat vor der Wahrnehmung ihres Wahlrechts dabei besondere Hürden zu überwinden: Besonders für obdachlose Menschen stellt sich zunächst einmal die Frage, wo sie denn – ohne einen festen Wohnsitz – überhaupt zur Wahl gehen können?
Die Qual mit der Wahl für wohnungslose Menschen
Obwohl Obdach- und Wohnungslose oft ein sehr großes politisches Interesse haben, ist die Wahlbeteiligung unter ihnen eher gering. Die Gründe hierfür scheinen sehr vielfältig zu sein. Manchmal ist der Grund banal wie eine fehlende Brille, bei vielen scheint aber auch eine gewisse Politikverdrossenheit dahinter zu stecken.
Dazu kommen besondere Hürden bei Obdachlosen, um überhaupt erst zur Wahl zugelassen zu werden: Sie müssen erst einen Antrag stellen, um sich in das Wählerverzeichnis eintragen zu lassen. Diese Prozedur scheint dann doch viele prinzipiell wahlberechtigte Menschen davon abzuhalten, ihr Wahlrecht am Wahlsonntag auch auszuüben.
Bei manchen mag auch das Gefühl „Meine Stimme zählt ja sowieso nicht wirklich!“ eine Rolle zu spielen, weil sich in ihrer Erfahrung seit Ewigkeiten nichts an ihrer unbefriedigenden Lebenssituation geändert hat. Auch wird das Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit bei den meisten Parteien recht stiefmütterlich behandelt.
Verschiedene Bundesländer, verschiedene Regelungen
Um bei der Bundestagswahl am 26. September zugelassen zu werden, muss sich jeder Wohnungslose beim zuständigen Wahlamt in seinem Bezirk ins Wählerverzeichnis eintragen lassen. Um wirklich zugelassen zu werden, ist jedoch eine Frist einzuhalten. Für Landtags- und Kommunalwahlen beträgt diese Frist in der Regel 21 Tage – sie ist jedoch auch an eine Aufenthaltsdauer gekoppelt, die durchschnittlich drei Monate betragen muss. Doch so einfach wie es klingt ist es leider nicht. Die Frist und die Aufenthaltsdauer unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland und oft ist zusätzlich noch eine Meldeadresse erforderlich.
Obdachlose Menschen, die sich zwar gewöhnlich in einem Gebiet aufhalten – aber keine Meldeadresse angeben können – haben es oft schwer: Sie müssen nachweisen, wie lange sie sich in einer Gemeinde aufgehalten haben. Nachweisen kann man seinen Aufenthalt durch eine eidesstattliche Versicherung oder durch Zeugen. Dies wird jedoch nicht immer anerkannt und stellt für viele Wohnungslose dann die entscheidende Hürde da, nicht wählen gehen zu können.
Schaut man auf einzelne Bundesländer, so ergeben sich folgende Regelungen und Fristen:
In Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Sachsen ist das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen direkt an eine Wohnung gebunden. Diese Regelung muss energisch kritisiert werden, da damit das Recht auf das demokratische Wahlrecht Einzelner unbegründet eingeschränkt wird!
Ohne Gesetzesgrundlage wird damit einzelnen Menschen systematisch ihr Wahlrecht vorenthalten, was gelegentlich mit einer „fehlenden Verwurzelung in der Gemeinde“ begründet wird – was immer sich Bürokraten darunter vorstellen mögen.
Auch das „Argument“, dass „Bürgerechte wie Wahlen auch Bürgerpflichten voraussetzen“ muss ohne jede gesetzliche Regelung als willkürliches Vorenthalten von Grundrechten angesehen werden, das in einer Demokratie als gravierendes Unrecht angesehen werden muss.
Die berechtigte Kritik an diesen Punkten hat an diesen fraglichen Praktiken bisher leider nichts geändert.
Die meisten Obdachlosen – auch jene, die auf der Straße leben – halten sich für lange Zeit in ihren Gemeinden auf, haben dort ihre Netzwerke und ihren Lebensschwerpunkt. Sie sind dort lokal verwurzelt und fester Bestandteil des kommunalen Lebens.
Dagegen sind nicht ortsgebundene und herumziehende obdachlose Menschen erfahrungsgemäß nur ein sehr kleiner Teil der auf der Straße lebenden Obdachlosen. (Auch hier macht sich wieder einmal die immer noch fehlende offizielle Zählung bzw. Statistik obdach- und wohnungsloser Menschen in Deutschland negativ bemerkbar)
Die meisten Obdachlosen kennen sich also sehr gut in Ihren Gemeinden aus. Auch die Argumentation, dass Bürgerechte auch Bürgerpflichten voraussetzen, ist letztlich nicht überzeugend, denn diese Behauptung ist mit den grundsätzlich geltenden Menschenrechten unvereinbar.
Nicht umsonst gewährt das Grundgesetz ein prinzipielles Wahlrecht für alle deutschen Staatsangehörigen, allein eingeschränkt durch ein Mindestalter von derzeit 18 Jahren am Wahltag.
Genaue Fristen für die Anträge und die Aufenthaltsdauer werden in der folgenden Liste aufgeführt und sind aus dem Dokument Wahlrecht für Wohnungslose Menschen von Dr. Michael Krennerich (Nürnberger Menschenrechtszentrum).
Landtagswahlen | Kommunalwahlen (a) | |||
Antragsfrist | Aufenthaltsdauer | Antragsfrist | Aufenthaltsdauer | |
Baden-Württemberg | 21. Tag | 3 Monate | Kein Wahlrecht |
Kein Wahlrecht |
Bayern | 21. Tag | 3 Monate | 21. Tag | 2 Monate (3 Monate) |
Berlin | 21. Tag | 3 Monate | 21. Tag | 3 Monate |
Brandenburg | 15. Tag | 1 Monat (3 Monate) | 15. Tag | Keine Frist (3 Monate) |
Bremen | 21. Tag | 3 Monate | 21. Tag | 3 Monate |
Hamburg (b) | 20. Tag | 3 Monate | 20. Tag | 3 Monate |
Hessen © | 21. Tag | 3 Monate (3 Monate) | Kein Wahlrecht |
Kein Wahlrecht |
Mecklenburg-Vorpommern | 23. Tag | 37 Tage (3 Monate) | 23. Tag | 37 Tage (3 Monate) |
Niedersachsen | 21. Tag | 3 Monate (6 Monate) | 21. Tag | 3 Monate (6 Monate) |
Nordrhein-Westfalen | 21. Tag | 16 Tage (3Monate) | 21. Tag | 16 Tage (3 Monate) |
Rheinland-Pfalz | 21. Tag | 3 Monate | Kein Wahlrecht |
Kein Wahlrecht |
Saarland | 21. Tag | 3 Monate | Kein Wahlrecht |
Kein Wahlrecht |
Sachsen | 21. Tag | 3 Monate (12 Monate) | Kein Wahlrecht |
Kein Wahlrecht |
Sachsen-Anhalt | 21. Tag | 3 Monate (6 Monate) | 21. Tag | 3 Monate (6 Monate) |
Schleswig-Holstein | 21. Tag | 6 Wochen (3 Monate) | 21. Tag | 6 Wochen (3 Monate) |
Thüringen | 21. Tag | 3 Monate (1 Jahr) | 21. Tag | 3 Monate |
Eigene Zusammenstellung: a) Beim passiven Wahlrecht nur Wahlen zu Kommunalparlamenten.
b) Wahl zur Bürgerschaft; stattliche und gemeindliche Aufgaben werden nicht getrennt; für die Bezirksversammlungswahl bestehen analoge Regelungen zum Bürgerschaftswahlgesetz.
c) In Hessen müssen Personen ohne Wohnsitz drei Monate ihren dauernden Aufenthalt im Land haben, während Personen mit Wohnsitz nur sechs Wochen vor den Wahlen ihre Hauptwohnung im Land innehaben müssen, um bei Landtagswahlen wahlberechtigt zu sein.
Das passive Wahlrecht und die Medien
In den Medien wird manchmal über das Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit und Wahlen berichtet. Thematisiert werden dabei allerdings oft nur das aktive Wahlrecht – das passive Wahlrecht, also die Berechtigung sich wählen zu lassen, wird dabei in der Regel ausgelassen.
Aber auch obdach- und wohnungslose Menschen besitzen grundsätzlich das Recht, sich wählen zu lassen!
Doch sind dazu in der Regel noch große Hürden zu überwinden, die wieder je nach Wahl und betroffenem Bundesland recht unterschiedlich sind.
Um zum Beispiel bei Landtagswahlen gewählt werden zu können, müssen Wahlberechtigte am Wahltag in Sachsen-Anhalt mindestens sechs Monate und in Sachsen und Thüringen sogar zwölf Monate vor der Wahl eine Wohnung innegehabt oder sich gewöhnlich im Wahlgebiet aufgehalten haben. Dies ist auch im internationalen Vergleich ein sehr langer Zeitraum.
Die Venedig Kommission des Europarates, die u. a. Wahlstandards für die Länder des Europarates entwickelte, fordert hier eine Verkürzung der Fristen und eine einheitliche Regelung in allen Bundesländern.
Die Vereine Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. aus Berlin und StrassenBLUES e. V. aus Hamburg informieren Obdachlose über ihre Rechte und geben Unterstützung. Sie haben auf ihren Webseiten auch einige interessante Artikel, Videos und Aktionen zum Themenbereich Wahlrecht veröffentlicht..
Standpunkte von Parteien zu Obdach und Wohnungslosigkeit
Die Programme der Parteien zu Obdachlosigkeit fallen sehr unterschiedlich aus und behandeln dieses Thema eher am Rande bis gar nicht. Das Hamburger Straßenmagazin Hinz & Kunzt hat dazu einen interessanten Artikel verfasst und dazu die wichtigeren Parteien miteinander verglichen.
Neben dem Thema Wohnungslosigkeit werden dabei auch die Themen Vermögenssteuer, Höhe des ALG-II / HARTZ-IV-Regelsatzes oder die Kontoführungsgebühren eines Basiskontos beleuchtet.
Unsere Redaktion ist schon gespannt darauf, was dann zuletzt nach den Wahlen in den anstehenden Koalitionsverhandlungen vereinbart wird und uns als Lösungsansätze für die bestehenden sozialen Problembereiche Armut (besonders bei Kindern, Alleinerziehenden, Rentnern und prekär beschäftigten Menschen), Lebenshaltungskosten, Grundversorgung und Mangel an bezahlbarem Wohnraum präsentiert wird. Wir werden das weiterhin kritisch beobachten.
Der richtige Wahl-O-Mat
Wer sich noch unsicher ist, oder seine Entscheidung einfach nur überprüfen möchte, kann sich einen der folgenden Wahl-O-Maten anschauen.
Beginnen wir mit dem Wahl-O-Mat, der bis März 2021 schon über 85 Millionen mal genutzt wurde. Er stand seit 2002 zu über 50 Wahlen zur Verfügung. Der Wahl-O-Mat bietet Bürgern die Möglichkeit, durch die Bewertung vorausgewählter politischer Thesen die eigene Meinung mit den Meinungen der zur Wahl stehenden Parteien zu vergleichen. Die Thesen werden von Jungwählern für jede Wahl zusammengestellt und richten sich vorrangig auch an diese Zielgruppe.
Der Wahl-O-Mat von WAHLTRAUT richtet sich vorrangig an Frauen. Hier wird analysiert welche Parteien sich wirklich für Gleichberechtigung einsetzen? Die Wahlberaterin für die Bundestagswahl 2021 WAHLTRAUT funktioniert wie der Wahl-O-Mat, setzt jedoch den Fokus auf feministische und gleichstellungspolitische Themen. Ins leben gerufen wurde dieses Projekt #stattblumen von Gleichberechtigung statt Blumen. Mit einem Appell an die Bundesregierung mit über 10.000 Unterschriften haben sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf die fehlende feministische Politik gelenkt.
Ein weiterer interessanter Wahl-O-Mat ist DeinWal. Damit ist es möglich zu prüfen, welche Partei wie abgestimmt hat. Hier kann man die Abstimmungen der Legislaturperiode von 2017 bis 2021 nachspielen, als wäre man selbst dabei gewesen. In der Auswertung siehst man dann, welche Parteien in welchem Sinne abgestimmt haben. Auch wenn DeinWal dem Wahl-O-Mat sehr ähnelt, steckt doch ein ganz anderes Konzept dahinter. Hier sagen die Parteien nicht, wie sie zu einem Thema abstimmen würden – hier zählt, wie sie zu einem Thema tatsächlich abgestimmt haben!
Der Musik-O-Mat (von Deezer) wurde entwickelt, um junge Menschen für die Wahl zu begeistern. Man will hier Erstwählern, zeigen, dass ihre Stimme wichtig sei, schrieb das Unternehmen in einer Mitteilung. „Über Musik soll Politik für junge Wähler leichter zugänglich gemacht werden“, so Deezer. Wer also mal gucken möchte, welche Partei zum eigenen Musikgeschmack passt, der ist hier gut aufgehoben.
Viele der hier verwendeten Informationen stammen aus der Analyse über das Wahlrecht von wohnungslosen Menschen des Deutschen Instituts für Menschenrechte von Dr. Michael Krennerich.
Unsere Redaktion bemüht sich, unparteiisch über die Wahl zu berichten. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von allen Parteien. Dieser Artikel ist keine Wahlwerbung, sondern dient lediglich der Aufklärung.