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Der „ESC Tag“ wird zum „Tag der Solidarität“

Der ESC und der Krieg in der Ukraine

Nichts lief ab wie ursprüng­lich geplant. Wie konnte es auch in diesen Zeiten. Der Nord­deut­sche Rundfunk (NDR) hat schon im vergan­genen Herbst ange­kün­digt, dass es 2022 nach drei Jahren endlich wieder eine deutsche Vorent­schei­dung zum Euro­vi­sion Song Contest (ESC) geben wird. Schon da stand die Planungs­si­cher­heit auf wacke­ligen Beinen, denn die Corona-Pandemie war und ist immer noch allge­gen­wärtig, so dass alle Vorbe­rei­tungen mit Risiko behaftet waren. Aber vieles soll sich bei der Ermitt­lung des natio­nalen ESC-Beitrags ändern. Soviel stand für Andreas Gerling für sein erstes Jahr als ESC-Teamchef fest.

Mit dem Locke­rungen der langsam abflau­enden Corona-Fall­zahlen war man erleich­tert, dass – wenn auch unter Auflagen – ‑das Publikum zur Entschei­dung im Berliner Adlershof zuge­lassen werden konnte. Um die Fanbase des weltweit größten Musik­e­vents weiter zu erhöhen, sollte der 4. März zum großen ESC-Tag in der ARD und ihren Sende­an­stalten werden. Alle dritten Programme sollten die TV-Show ausstrahlen, und Deutsch­land sollte sich auf einen musi­ka­lisch-unter­halt­samen Tag einstellen. Doch die krie­ge­ri­sche Invasion Russlands in der Ukraine machten diesen Schritt zur Norma­lität wieder zunichte.

Aus dem großen ESC-Tag wurde nun ein Abend der Soli­da­rität. Statt wie geplant zur Prime Time wurde die Live-Show aus Berlin auf 21:00 Uhr verlegt. In den 45 Minuten zuvor begrüßte Ingo Zamperoni das Publikum zur Sendung „Wir helfen – Gemeinsam für die Ukraine“. Menschen wie Natalia Klitschko kamen zu Wort, um detail­liert auf Probleme im Kriegs­ge­biet hinzuweisen.

Zusätz­lich wurde zu Spenden aufge­rufen, um mit Mitteln gegen das Kriegs­leid eine Linderung beizu­tragen. Während dieser sehr bewe­genden Drei­vier­tel­stunde kam auch Barbara Schö­ne­berger zu Wort, die erwähnte, wie wichtig nicht nur eine Musikshow sei, sondern gerade auch der ESC in dieser. Dieser euro­päi­sche Kultur­aus­tausch bringe die Menschen mehr zusammen wie es kaum eine andere Veran­stal­tung schaffen könnte.

Germany 12 Points

Geprägt von den bewe­genden Eindrü­cken der Soli­da­ri­täts­sen­dung war es nicht nur auf allen dritten Programmen, sondern auch in der ARD soweit – die 90-minütige Suche nach dem deutschen ESC-Beitrag für die dies­jäh­rige Ausgabe des ESC in Turin standen dem TV-Publikum bevor. Aus 6 Beiträgen galt es, die richtige Wahl zu treffen. Doch Mode­ra­torin Barbara Schö­ne­berger begrüßte nicht nur Malik Harris, Mael & Jonas, Eros Atomus, Emily Roberts, Felicia Lu sowie Nico Suave & Team Liebe zur Präsen­ta­tion ihrer Songs, auf einer zusätz­lich aufge­bauten Couch nahmen weitere promi­nente ESC-Experten wie Thomas Hermanns, Jane Comerford, Conchita Wurst und Bülent Ceylan Platz sowie Stellung zur Sendung.

Das Publikum entschied letztlich, wer am Ende das Ticket für Turin lösen durfte: Die TV-Zuschauer konnten dabei über 50 % des Ergeb­nisses abstimmen. Die andere Hälfte war bereits verteilt, denn auch die Radio­hörer von 11 Sendern hatten die Möglich­keit gehabt, die Songs im voraus anzuhören und online über diese Stim­men­hälfte abzu­stimmen. In den 3 Wochen zuvor sahen dann die Ohren Deutsch­lands den Song „I Swear To God“ von Mael & Jonas auf Platz 1.

Doch via Bild­schirm konnten sie mit ihrem Live­auf­tritt lediglich den dritt­besten Eindruck erwecken, und das Koblenzer Duett rutschte auf die Silber­me­daille ab. Nutz­nießer war zuletzt der 25jährige Malik Harris, der mit „Rockstars“ das TV-Duell und somit die gesamte Show für sich entschied. Malik Harris wird Deutsch­land also am 14. Mai beim 66. Euro­vi­sion Song Contest in Turin vertreten. Dazu drücken wir ihm die Daumen.

Rockstars“ war sicher der wett­be­werbs­stärkste Beitrag des Abends, aber die größten Emotionen hatten die Interval-Acts. Conchita Wurst und Jane Comerford performten Songs aus der ESC-Geschichte. Zu dem unge­wöhn­li­chen Duett gesellte sich zum Abschluss auch Gitte Hænning. Die LED-Wand verwan­delte sich in ukrai­ni­sches Blau-Gelb, und das neufor­mierte Trio verwan­delte den Adlershof in einen Chor. Selten klang „Ein bißchen Frieden“ so bewegend wie an diesem Abend.

Jamala

Doch ein Auftritt bewegte besonders, er führte zu Gänsehaut und Tränen. Noch drei Wochen zuvor war Jamala, die ESC-Siegerin 2016, Teil der ukrai­ni­schen Jury, als ihr Heimat­land den dies­jäh­rigen Beitrag auswählte. Putins Irrsinn zwang sie wie Hundert­tau­sende ihrer Lands­leute zur Flucht. Vor sechs Jahren bewegte ihre Lebens­ge­schichte, als einst Stalin unter anderem ihre Vorfahren depor­tieren ließ?

Ihr Song handelte von den Kriegs­ver­bre­chen des Jahres 1944, doch in vielen Lied­zeilen ließ sich eine Aktua­lität des Gesche­hens der Jetztzeit verbinden. Man merkte es Jamala an, die auch unter ihren persön­li­chen Eindrü­cken der vergan­genen Tagen mit zitternder Stimme, aber mit sehr viel Authen­ti­zität ihren Sieger­song von 2016 vortrug:

Wenn Fremde kommen, Sie kommen zu ihnen nach Hause. Sie töten euch alle und sagen, Wir sind nicht schuldig. Wo sind deine Gedanken? Die Mensch­heit weint, Ihr denkt, ihr seid Götter. Aber alle sterben. Schluck nicht meine Seele.“

ESC-Teamchef Andreas Gerling

Einen Tag vor dem deutschen ESC Finale konnte unsere Redaktion ein Gespräch mit dem neuen ESC-Teamchef Andreas Gerling führen, der 2022 erstmals feder­füh­rend in dieser Funktion ist. Er habe sich sehr gefreut, dass der NDR ihm diese Aufgabe über­tragen habe. Gerling betonte, wie wichtig Musik in diesen unsi­cheren Zeiten sei, und welche grenz­über­schrei­tende Wirkung gerade vom ESC ausgehe. Beim ESC würden Unter­schiede keine Rolle spielen, egal welche Natio­na­lität, Konfes­sion, welches Geschlecht oder Alter jemand habe. Behin­de­rung oder Vergleiche zwischen Arm und Reich gebe es bei der bedeu­tendsten Musik­ver­an­stal­tung der Welt nicht.

Er freue sich außerdem darüber, dass im Auswahl­gre­mium sechs hoch­ta­len­tierte Künst­le­rinnen und Künstler nominiert wurden. Natürlich entging dem neuen Teamchef auch die Kritik der zurück­lie­genden Wochen nicht, als sogar eine Petition gestartet wurde, um den NDR die Auswahl der Nomi­nierten, aber vor allem einer Nicht­no­mi­nierten Band zu bewegen. Gerling erklärte, dass er die Kritiker genauso ernst nehme. „Daran ist zu merken, welche Bedeutung der ESC für die Menschen hat“, so der Teamchef. Ob das Verfahren auch im kommenden Jahr so bleibt, oder ob es zu Korrek­turen komme, wollte Gerling weder bestä­tigen noch ausschließen.

Ohne zu ahnen, wer letzt­end­lich den Vorent­scheid gewinnen würde, bestä­tigte Dele­ga­ti­ons­lei­terin Alexandra Wolfslast die Worte von Andreas Gerling, dass am Auftritt in Turin zusätz­lich gear­beitet werde, um den deutschen Teil­nehmer best­mög­lich ausge­rüstet nach Italien zu schicken.

Wir spüren, dass Andreas Gerling mit viel Herzblut an seine neue Aufgabe herangeht. Wir alle sollten ihm und seinem ehrgei­zigen Team die Zeit und das Vertrauen geben. Anders als in vielen Kritiken zu lesen war, haben wir nicht den Eindruck gewonnen, dass der NDR die Zuschauer ignoriert. Gerling zeigte sich uns gesprächs­offen, und will es mit jedem in konstruk­tiver Form bleiben. Und – ist der Spaß am ESC nicht schon mehr wert als 12 Points?

Noch mehr Wissens­wertes über den ESC …

Sowohl über den aktuellen Jahrgang als auch über die Historie können Sie auf zahl­rei­chen Foren mehr Infor­ma­tionen zum Euro­vi­sion Song Contest erfahren:

Neben bereits fest­ste­henden Beiträgen kann man sich auch über die Vorent­schei­dungen der insgesamt 40 teil­neh­menden Nationen ein Bild machen. Wenn Sie Europa und die Musik mögen, kommen Sie am Euro­vi­sion Song Contest nicht vorbei.

Eine Nach­be­spre­chung zum dies­jäh­rigen deutschen Vorent­scheid mit dem ESC-Experten Dr. Irving Wolther finden sie hier.