Klaus-Dieter Gleitze von der Landesarmutskonferenz (LAK) Niedersachsen und die Gruppe „Gnadenlos Gerecht“ aus Hannover hatten am 21.03.2017 engagierte Menschen in unterschiedlichen prekären Lebensverhältnissen zu diesem Thema in das Kulturzentrum Freizeitheim Linden / Hannover eingeladen.
Helga Röller (vom ver.di Bundeserwerbslosenausschuss) und Jürgen Otte berichteten über die Ableitung der HARTZ-IV-Sätze, die fragwürdige Definition des Begriffs „Existenzminimum“ und Möglichkeiten von Engagement und politischer Gegenwehr.
Die Mehrzahl der Besucher/Innen haben sich bereits in verschiedenen Betroffenen-Initiativen organisiert, z.Bsp.: „Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum“, „Sanktionsfrei e.V. – Nie wieder sanktioniert werden“, „Mindestlohn 11 Euro / Mindestens 600 Euro als Eckregelsatz“ (… die alle an weiteren interessierten Betroffenen als Mitstreiter interessiert sind!). Daneben kamen auch einige Vertreter/Innen von Parteien.
Klaus-Dieter Gleitze eröffnete die Veranstaltung mit einem kleinen Quiz zur Einschätzung der Verteilung von Reichtum und Armut in Deutschland. So war es vielen Besucher/Innen neu, dass es in unserem Land mittlerweile fast 1,2 Million Mitbürger über ein investierbares Vermögen von mehr als einer Million Euro verfügen.
Jürgen Otte erläuterte dann den Begriff „Regelsatz“, der seit Einführung der „Agenda 2010“ die Höhe des für die verschiedenen Gruppen gezahlten HARTZ-IV-Satzes festlegt.
Dabei werden für verschiedene Ausgabepositionen (z.Bsp. Nahrungsmittel, Bekleidung, Wohnungserhalt, Gesundheitspflege, u.s.w.) Mindestbeträge ermittelt, die der Gesetz-geber einem Menschen in Deutschland zugesteht, der kein eigenes Einkommen hat. Die Gesamtsumme aller einzelnen Ausgabepositionen ergibt den monatlich auszuzahlenden HARTZ-IV-Regelsatz.
Die Ermittlung der zugrunde gelegten Referenzgruppe sei aber leider in vielen Punkten höchst fragwürdig angelegt, so dass die deutsche Bevölkerung "armgerechnet" wird, um die Regelsätze niedrig zu halten.
Obwohl die Definition Deutschlands als Sozialstaat eine Verpflichtung darstelle, mit den Mindestsicherungsleistungen jeden Bürger vor Armut zu bewahren und eine soziale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, hätten die Betroffenen immer größere Schwierigkeiten, ihre Ausgaben mit dem HARTZ-IV-Regelsatz zu begleichen. Sie müssten sich immer öfter bei nicht eingeplanten Ausgaben einschränken, Arztbesuche aufschieben und immer öfter soziale Kontakte einschränken und zu Hause bleiben. Jedes Jahr komme es zu hunderttausenden Stromsperren und es sei eine wachsende Verschuldung auch mit Darlehen beim Jobcenter zu beklagen, die vom offenbar zu niedrig angesetzten "Existenzminimum" abbezahlt werden müssten.
Gleichzeitig wachse die Zahl von Tafeln und Sozialkaufhäusern. Das Geld zum Leben reiche einfach nicht aus in einem System, das die Betroffenen immer mehr als "HARTZ-IV-Diktatur" empfinden würden – im Gegensatz zu unserer SPD-Arbeitsministerin Nahles, für die bei den Regelsätzen alles in Ordnung sei.
Dagegen forderten die Sozialverbände eine deutliche Erhöhung der Regelsätze auf über 500,- Euro und die Übernahme der anfallenden Stromkosten, die in den Regelsätzen viel zu niedrig angesetzt seien. Vom Ziel der Erwerbslosengruppen, die für eine angemessene soziale Teilhabe mindestens 600,- Euro forderten, sei das aber immer noch weit entfernt.
Für genauere Informationen dazu empfehlen wir euch das Skript zum Vortrag von Jürgen Otte, das wir euch hier mit Genehmigung des Autors als PDF-Datei zur Verfügung stellen.
HelgaRöller berichtete dann von ihren Erfahrungen mit unabhängigen und gewerkschaft-lichen Erwerbslosengruppen. Es gebe zwar ein „Bündnis für Erwerbslose“, die Zusammenarbeit im Alltag müsse aber verbessert werden.
Erste Ansätze wie „Keine/r geht allein zum Amt“, Forderung nach einem angemessenen Regelsatz-Minimum, Bekämpfung vom Strom-Überschuldung durch vollständige Übernahme von Energiekosten seien zwar wichtige Schwerpunkte der Initiativen.
Sie sehe aber mögliche Verbesserungen einerseits bei der Gewichtung von Schwerpunkt-themen der verschiedenen Gruppen, um Betroffene gezielter zur Mitarbeit zu motivieren. Andererseits sei die genaue und verständliche Informationen zum gesamten HARTZ-IV-Verfahren und der Gesetzgebung dazu sehr wichtig, damit alle Betroffenen wissen, worüber sie reden. Nur durch Kennenlernen der teils „bescheuerten Methodik“ könnten gezielte Forderungen zur wirklichen Verbesserung der eigenen Situation gestellt werden.
Als besonders ungerecht erläuterte sie die Konsumdaten von 2013, die auch 2018 nochmals für die Ermittlung des Regelbedarfs herangezogen werden sollen – „Wie bescheuert ist das denn?“
Es müsse gemeinsam ein „Soziokulturelles Existenzminimum“ definiert werden, dass jeder/m HARTZ-IV-Betroffenen eine angemessene Teilhabe bei wirklich allen Lebensbereichen unserer Gesellschaft ermögliche. Erste Schritte dazu wären z.Bsp. Eine vollständige Übernahme der Energiekosten, eine der Realität angemessene Ausgabenposition für Post, Telekommunikation und Verkehr oder eine individuelle Berücksichtigung von Gesundheitskosten.
Außerdem müsse der Umgang der Ämter mit den Betroffenen hinterfragt werden, der immer wieder zur Einschaltung von Gerichten führe. Und als Vermittler-Vorwurf vorgebrachte „Multiple Vermittlungshemmnisse“, die erst durch die zu geringen Regelsätze verursacht würden, müssten durch eine höhere Förderung beseitigt werden.
Danach eröffnete Klaus-Dieter Gleitze die Diskussionsrunde mit zwei abschließenden Statements:
„Wir müssen uns bewegen und uns selbst aktivieren!“ (Jürgen)
„Uns ist bisher einfach zu wenig eingefallen, um wirklich gehört zu werden!“ (Helga)
– Politiker, Hört unsere Worte –
(… um nach der Diskussion zum Ende der Veranstaltung die mitgebrachte symbolische Mauer aus Kartons mit bemerkenswerten Statements zur Verteilung von Armut und Reichtum in Deutschland gemeinsam einzureißen.)
Bei der Diskussion kamen noch einige zusätzliche Themen zur Sprache, die wir euch hier als Ergänzung für weitere Themen unsortiert auflisten möchten:
Rentner/Innen und HARTZ-IV
– Ein höherer Bedarf für Medikamente und Zuzahlungen ist mit den Regel-Leistungen
kaum zu bezahlen
– Eine Mindestrente wäre nötig
Mindestumfang von Leistungen für Erwerbslose
– Zusammenhang zwischen Regelsatz und Mindestlohn
– Höhe von Leistungen für Erwerbslose ? – 600,- … 1.000,- Euro plus Miete ?
Thema „Arbeitsethik“
– Warum ist ein erwerbsloser Mensch ein Mensch „zweiter Klasse“ ?
– Wie soll dem absehbaren Jobabbau der Zukunft begegnet werden ?
– Geht das künftig ohne Grundeinkommen für alle Bürger ?
– Gewerkschaften und Erwerbslose – warum stellen sie nur eine sehr schwache Gruppe ?
(oft als Feigenblatt-Charakter empfunden)
Grundsicherung im Alter ?
– Nötige Beihilfen für angemessene medizinische Versorgung
– Unfaires Anrechnen von Vermögen und Zuverdienst
Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)
– Gute Chancen, dass das innerhalb der nächsten 10–20 Jahren eingeführt wird
– Dann mögliche neue Arbeitsethik:
Nur noch „Sinnvolle Arbeit“ für alle anbieten !
– Wer bestimmt die die Richtung der Diskussion um das BGE ?
– 500,- Euro wie beim Finnland-Experiment sollte das nicht sein !
Mindestlohn-Debatte
– Welche Höhe wäre gerecht ?
– Statistiker: etwa 17,50 Euro Stundenlohn ist nötig, um später von der eigenen
Rente leben zu können.
Problem der Steuervermeidung von reichen Mitbürgern
– „Reichtum verpflichtet“ ! – (Thema der LAK zum nächsten Weltarmutstag Okt.2017)
– „Betteln der Armen“ um Leistungen
– Wie lässt sich die Steuergerechtigkeit in Deutschland (EU) verbessern ?
Selbstorganisation Erwerbsloser bzw. von Menschen mit Armutserfahrung
– Wie müsste die künftig organisiert werden ?
– Die heute Betroffenen stellen heute schon die größte Wählergruppe dar !
– Weg von kleinen Splittergruppen, die sich gegenseitig bekämpfen,
hin zu einer praktischen und zielorientierten Zusammenarbeit !
Gesellschaft und Arbeit – Marxistische Gedanken / Theorie
– Hat das für unsere heutige Arbeitswelt / Gesellschaft noch Bedeutung ?
Aktionen und Demos
– Wie können wir uns auf individuelle Weise wehren ?
– Hörbare / sichtbare Zeichen setzen ?
– Wie ? … Entwicklung neuer und Verbreitung bewährter Aktionen
– Selbstbewusster auftreten ! – Öffentlichkeitswirksame Aktionen gestalten
– Stürmen von Büffets auf öffentlich zugänglichen Veranstaltungen !
(mit passenden T‑Shirts, Tafeln, Tüten und Infomaterial ausgestattet)
Scholz-Euphorie – „Heiliger St. Martin“
– Was bedeutet das für uns Betroffene, bieten sich da Chancen ?
– Frau Nahles ist offenbar der Ansicht, dass HARTZ-IV-Sanktionen weiterhin
„sinnvoll“ und keine Änderungen nötig seien – „Alles Ok so“ ???
Bildung von „Selbsthilfegruppen“ für Erwerbslose / Armutsbedrohte ?
– Erfahrungsaustausch über alle Themen
– Individuelle Finanz-Probleme
– Erfahrungen / Umgang mit Behörden
Thema Lohndumping
– Wo bleibt die 35-Stundenwoche ?
– Wie steht es um die „Junge Generation“ ?
(zufrieden mit Praktika und Zeitverträgen ?)
Vernetzung der Gruppen Betroffener (Erwerbslosigkeit, Armut, …)
– Erfahrungsaustausch untereinander ist sehr wichtig !
(Welche Aktionen haben funktioniert, breite Aufmerksamkeit bekommen ?
Welche Aktionen waren überraschend erfolgreich ?)
Selbstverständnis von Betroffenen-Initiativen
– Welche Zielgruppe soll angesprochen werden?
(… sollte nicht zu eng gefasst werden)
Wäre eine Internet-Plattform bei der LAK für Gruppen denkbar ?
– Kurzvorstellung, Arbeitsgebiet, Erfahrungen, Termine, … ?
„Bewegungs-Slogan“
– „Und zuletzt unsere immer noch nötige Anmerkung, dass wir auch heute noch
viel zu viele Arme in unserer Gesellschaft dulden.“
– Solch ein gemeinsam formulierter Satz sollte immer unter wirklich alle Schrift-
stücke einer jeden Gruppe gesetzt werden !
… E‑Mails, Texte, Infoblätter, Flyer, Plakate, …
„Aktionen Starten“ – „… endlich den Arsch hoch kriegen !“
– Wie können wir das oft fehlende Interesse von Betroffenen wecken ?
– Beispiel: Maschsee-Aktion mit Tretbooten
– Aktionen mit Kartons ? – anderen weithin sichtbaren Utensilien ?
– Wie machen wir Pressemitteilungen attraktiver ?
(… verbinden mit Aktionen ?)
1.-Mai-Kundgebungen ?
– Aktionen dazu ?
– T‑Shirt-Aktionen ? – z.Bsp. Thema Mindestregelsatz, also mit einem
Aufdruck „560“, „650“, „900“ oder „1.000“ ?
– „Schreib Deinem Abgeordneten !“
– Oder besser : Besuche Deine/n Abgeordnete/n in der Öffentlichkeit !
(Termine werden mittlerweile fast immer veröffentlicht ! – siehe seine Webseite)
– „Auf die Füße Treten“ bei Entscheidern organisieren
Klaus-Dieter Gleitze bedankte sich dann bei Helga und Jürgen und entließ alle Besucher mit dem Hinweis auf mehr als 40 interessierte Teilnehmende. Er habe auch schon Veranstaltungen in kleinerer Runde erlebt und hoffe auf einen Anfang einer Reihe solcher Treffen mit weiter wachsender Besuchermenge.
Dem schließen wir uns mit einem Dank für unsere Einladung an. Wir werden euch künftig gerne weiter über solche Treffen berichten und rufen alle Leser/Innen auf, einmal selbst über eine Beteiligung an einer Betroffenen-Gruppe nachzudenken.