Lange vor Beginn von ESC And Eat zeigt sich ESC-Fan Andrea stolz vor dem Ernst-August-Denkmal in Hannover. Für das Event war sie eigens aus Bremerhaven angereist

Obrigado“ an Doktor Euro­vi­sion – ESC And Eat

Kultur­schaf­fende haben es seit der CoVid-19-Pandemie, verbunden mit sämt­li­chen Einschrän­kungen und Verboten von öffent­li­chen Darbie­tungen, besonders schwer. Aber – Corona hat viele, die während der Lockdowns und der Auftritts­ver­bote ins Home­of­fice verwiesen wurden, auch kreativ werden lassen. Einer, der nicht müde wird, eine publi­kums­freund­liche Idee nach der anderen zu entwi­ckeln und zu präsen­tieren, ist Dr. Irving Wolther. Er ist bekannt­lich der Arzt, den Sie immer dann fragen sollten, wenn Sie dringend Infor­ma­tionen über den Euro­vi­sion Song Contest benötigen.

Der 52jährige Fachmann aus Hannover ist nicht nur Experte, er ist der erste Mensch weltweit, der über die größte Musikshow der Welt promo­viert hat. Nebenbei ist er Autor, und verfasst auch Bücher über das jährliche Ereignis. Außerdem unter­stützt er die Webseite Eurovision.de. Schon vor über 20 Jahren gründete er einen Fanclub. Vor zwei Jahren veran­stal­tete er im Rahmen der UNESCO of City Hannover ein Wochen­ende, das seinen Höhepunkt in einer UNESCON-Gala mit vielen ESC-Teil­neh­mern fand. Rundum, Dr. Wolther führt ein Leben, das sprich­wört­lich schon mehr als 12 Punkte umfasst.

Dabei ist der ESC-Arzt aus Nieder­sach­sens Landes­haupt­stadt von Grund auf erst einmal selber Fan, der seine Ideen vielen weiteren Hardcore-Fans zu Gute kommen lässt. Als im Frühjahr 2020 der Virus Europa überzog, schuf er eine Online-Show, die in sozialen Netz­werken wie YouTube oder Facebook zu verfolgen ist. In der Doktor Euro­vi­sion-Sprech­stunde plaudert er mit chat­tenden Fans über das musi­ka­li­sche Groß­ereignis. Zu dieser abend­li­chen Stunde gehört dazu, das Behandeln von unter­schied­li­chen ESC-Themen oder ESC-Fans können sich in einem Quiz in Song Contest-spezi­fi­schen Fragen gegen­ein­ander messen. Oder sie selbst werden live hinzu­ge­schaltet, sei es bei Songchecks zu allen euro­päi­schen Vorent­schei­dungen, oder sie werden selbst zu Talk­gästen. Zusätz­lich schuf Dr. Wolther Ende vergan­genen Jahres innerhalb der Sprech­stunde mit dem Wett­be­werb Hören!-Online einen zusätz­li­chen Contest. Ein Wett­be­werb, bei dem Musik­schaf­fende einmal im Monat mit ihren eigenen Produk­tionen gegen die Musik­samm­lungen von Zuhörern gegen­ein­ander antreten.

Am vergan­genen Sonnabend ging der Reigen der neuen Veran­stal­tungen in die nächste Runde. ESC and Eat, so nannte sich die Pilot­ver­an­stal­tung im Phonos-Büro, zu der Dr.Wolther eine kleine Runde geladen hatte. Den Gästen wurde angeboten, den Euro­vi­sion Song Contest mit allen Sinnen zu genießen. Diesen gemüt­li­chen Abenden wird ein Motto vorge­geben, genau­ge­nommen ein Teil­neh­mer­land des ESC. Bei der Première ging es um Portugal. Dabei wurde nicht nur die Historie des Landes beim einstigen Grand Prix Euro­vi­sion beleuchtet, auch Geschichten, die sich hinter einzelnen Beiträgen verste­cken. Und wie die Formu­lie­rung Eat es bereits verrät, gaben sich Gastgeber und Gäste auch den kuli­na­ri­schen Fein­heiten Portugals hin, die sie aller­dings gemein­schaft­lich zube­reitet haben.

Jeder ESC-Fan weiß, das Portugal beim Festival seit seiner ersten Teilnahme im Jahr 1964 sich immer als sehr tradi­tio­nell und und unge­wöhn­lich präsen­tiert. Mit einer einzigen aussche­renden Ausnahme waren die Südeu­ro­päer seltener Gast in den Top Ten, dennoch gelten deren Beiträge als beson­derer Farb­tupfer. Und in einem Fall sogar revo­lu­tionär. 1974 belegte Paulo de Carvalho mit drei weiteren Teil­neh­mern den letzten Platz in Brighton. Als drei Wochen nach dem Song Contest im portu­gie­si­schen Radio sein Beitrag „E Depois Do Adeus“ präsen­tiert wurde, war das für die Bevöl­ke­rung ein entschei­dendes  Signal, dass Putschisten im Land stra­te­gisch wichtige Teile im Land zu besetzen; die begin­nende Nelken­re­vo­lu­tion bedeutete das Ende der jahr­zehn­te­langen Diktatur des Landes.

Wer an Musik aus Portugal denkt, denkt zu aller erst an Fado. Dieser Musikstil, der im Ursprung geprägt ist von arabi­schen und kelti­schen Einflüssen, vermit­telt unglück­liche Lebens­um­stände mit Hoffnung auf bessere Zeiten. Für Freunde des Fado ist sie mehr als nur ein Kulturgut, für Nicht-Portu­giesen ist der Sinn oftmals schwer vermit­telbar. Die Harmonien in der Melodie, aber auch die wehmü­tigen Gesangs­stimmen vermit­teln ein Lebens­ge­fühl. Reinen Fado aller­dings gab es als portu­gie­si­schen ESC-Beitrag allen­falls nur angelegt. Carlos do Carmo kam 1976 in Den Haag mit „Uma Flor De Verde Pinho“ wohl am dich­testen an diese Musik heran, die seit einigen Jahren von der UNESCO zum Welt­kul­tur­erbe erklärt wurde.

Obwohl Portugal seit 1975 seine Beiträge freier und demo­kra­ti­scher auswählen kann, was neben den Songs auch die Präsen­ta­tion angeht, zeigen sich tradi­tio­nelle und landes­ty­pi­sche Merkmale auch heute noch in vielen Liedern. In „Se Eu Te Pudesse Abracar“, mit dem Alma Lusa 1998 in Birmingham startete, ist unter anderem ein Dudelsack zu hören, was an dem Einfluß der Kelten auf der iberi­schen Halbinsel liegt. Der Song „Conquis­tador“ ,mit dem die Band Da Vinci 1989 ihr Glück in Lausanne versuchte, behandelt in den Strophen fast in Aufzähl­form die ehema­ligen portu­gie­si­schen Kolonien. Neben weiteren Beiträgen waren die Hinter­gründe und die Bedeu­tungen der Lieder Inhalte von Vorträgen, die Dr. Wolther vorbe­reitet hatte, die in gemein­samen und gemüt­li­chen Unter­hal­tungen mündeten.

Ähnlich wie in Frank­reich, im nörd­li­chen Nach­bar­land leben viele Portu­giesen, spielt sich das gemein­schaft­liche Leben bei den Südeu­ro­päern beim gemein­samen Essen ab. Beim Hören der Musik und zusätz­lich zu den Geschichten und der Geschichte des Landes genoss man das, was man sowohl als Vorspeise, aber auch als fort­wäh­rende Zwischen­mahl­zeit sehen kann. Über­di­men­sional wirkende Linsen waren in Wirk­lich­keit die in Portugal üblichen Tremoςos, oder einfach Lupi­nen­kerne. Als Einstieg gab es u. a. wahlweise Thunfisch- oder Sardi­nen­paste als Brot­auf­strich. Weder hier, aber auch später beim Hauptgang durfte natürlich der auch hier­zu­lande bekannte Portwein nicht fehlen.

Apropo Hauptgang – wie anfangs schon erwähnt, wurde die von den Gästen zube­reitet. Das Rezept bekamen die Küchen­meister von Dr. Euro­vi­sion – auf portu­gie­sisch. Mit der Vorfreude auf das gemein­same Mahl wurde natürlich fleißig übersetzt – verbunden mit dem Hinter­grund, weshalb diverse Nahrungs­mittel eine Bedeutung in Portugal haben. Alle sechs anwe­senden versam­melten sich konzen­triert und gut gelaunt in der Büroküche, um das Grund­nah­rungs­mittel Portugals; Reis, warm­zu­ma­chen, der später in einem gewürzten Toma­tensud mit Koriander serviert wurde.

Als Beilage gab es frit­tierte Bohnen in Teig umhüllt, die man in Portugal unter Peixinhos De Horta erhält. Dazu gab es viele portu­gie­si­sche ESC-Beiträge zu hören, oder auch Songs, die im Festival Da Cançäo antraten. Das Festival ist von Anfang an der portu­gie­si­sche Vorent­scheid für den Euro­vi­sion Song Contest. Das machte satt, und dennoch Appetit auf mehr, denn auch der Nachtisch wurde von den ESC-Fans zube­reitet. Bei den kleinen Bejame Depresso handelt es sich um fruchtige, quark­ähn­liche Bällchen.

Was fehlt noch bei einem gemein­schaft­li­chen Abend voller Musik? Natürlich, es wurde gemeinsam gesungen. Hierbei wurde die Gesangs­stimme nicht nur mit Portwein sicher­heits­halber nachgeölt – jeder ging dabei tief in sich, ob die eigenen Kennt­nisse der portu­gie­si­schen Sprache denn ausrei­chen. Der sechs­köp­fige Chor diente dabei als Back­ground für den aller größten Wurf der portu­gie­si­schen Geschichte. Aber – hätte Salvador Sobral mit „Amar Pelos Dois“ 2017 auch mit der Verstär­kung aus dem Phonos-Büro den Sieg in Kiew geholt? Es klang viel­leicht ein wenig unhar­mo­nisch, aber es war zumindest musi­ka­lisch genauso ehrlich, wie es sich Sobral bei der damaligen Preis­über­gabe von der gesamten Musik­branche gewünscht hatte.

Ein schöner Abend, der viel zu schnell zu Ende ging, obwohl es schon tiefste Nacht in Hannover war. Dr. Irving Wolther sorgt seit Jahren für Ideen, mit der er den Euro­vi­sion Song Contest bei Musik­freunden auch außerhalb des Monats Mai aufrecht­erhält. Auch ESC And Eat wurde zu einem Erfolg für alle Betei­ligten. Die Schluss­fragen kamen: wann gibt es das nächste ESC And Eat, welches Land wird sich dann vorge­nommen und gibt es irgend­wann Portugal Teil 2? Auch wenn es Europa nicht immer gut geht – jeder ESC-Fan weiß auch, Europa ist ein wunder­barer und viel­fäl­tiger Kontinent. In der Nacht zum Tag Der Deutschen Einheit wussten das Andrea, Maja, Rona, Rene, der Herr Doktor sowieso – ach ja, und ich auch.