Kulturschaffende haben es seit der CoVid-19-Pandemie, verbunden mit sämtlichen Einschränkungen und Verboten von öffentlichen Darbietungen, besonders schwer. Aber – Corona hat viele, die während der Lockdowns und der Auftrittsverbote ins Homeoffice verwiesen wurden, auch kreativ werden lassen. Einer, der nicht müde wird, eine publikumsfreundliche Idee nach der anderen zu entwickeln und zu präsentieren, ist Dr. Irving Wolther. Er ist bekanntlich der Arzt, den Sie immer dann fragen sollten, wenn Sie dringend Informationen über den Eurovision Song Contest benötigen.
Der 52jährige Fachmann aus Hannover ist nicht nur Experte, er ist der erste Mensch weltweit, der über die größte Musikshow der Welt promoviert hat. Nebenbei ist er Autor, und verfasst auch Bücher über das jährliche Ereignis. Außerdem unterstützt er die Webseite Eurovision.de. Schon vor über 20 Jahren gründete er einen Fanclub. Vor zwei Jahren veranstaltete er im Rahmen der UNESCO of City Hannover ein Wochenende, das seinen Höhepunkt in einer UNESCON-Gala mit vielen ESC-Teilnehmern fand. Rundum, Dr. Wolther führt ein Leben, das sprichwörtlich schon mehr als 12 Punkte umfasst.
Dabei ist der ESC-Arzt aus Niedersachsens Landeshauptstadt von Grund auf erst einmal selber Fan, der seine Ideen vielen weiteren Hardcore-Fans zu Gute kommen lässt. Als im Frühjahr 2020 der Virus Europa überzog, schuf er eine Online-Show, die in sozialen Netzwerken wie YouTube oder Facebook zu verfolgen ist. In der Doktor Eurovision-Sprechstunde plaudert er mit chattenden Fans über das musikalische Großereignis. Zu dieser abendlichen Stunde gehört dazu, das Behandeln von unterschiedlichen ESC-Themen oder ESC-Fans können sich in einem Quiz in Song Contest-spezifischen Fragen gegeneinander messen. Oder sie selbst werden live hinzugeschaltet, sei es bei Songchecks zu allen europäischen Vorentscheidungen, oder sie werden selbst zu Talkgästen. Zusätzlich schuf Dr. Wolther Ende vergangenen Jahres innerhalb der Sprechstunde mit dem Wettbewerb Hören!-Online einen zusätzlichen Contest. Ein Wettbewerb, bei dem Musikschaffende einmal im Monat mit ihren eigenen Produktionen gegen die Musiksammlungen von Zuhörern gegeneinander antreten.
Am vergangenen Sonnabend ging der Reigen der neuen Veranstaltungen in die nächste Runde. ESC and Eat, so nannte sich die Pilotveranstaltung im Phonos-Büro, zu der Dr.Wolther eine kleine Runde geladen hatte. Den Gästen wurde angeboten, den Eurovision Song Contest mit allen Sinnen zu genießen. Diesen gemütlichen Abenden wird ein Motto vorgegeben, genaugenommen ein Teilnehmerland des ESC. Bei der Première ging es um Portugal. Dabei wurde nicht nur die Historie des Landes beim einstigen Grand Prix Eurovision beleuchtet, auch Geschichten, die sich hinter einzelnen Beiträgen verstecken. Und wie die Formulierung Eat es bereits verrät, gaben sich Gastgeber und Gäste auch den kulinarischen Feinheiten Portugals hin, die sie allerdings gemeinschaftlich zubereitet haben.
Jeder ESC-Fan weiß, das Portugal beim Festival seit seiner ersten Teilnahme im Jahr 1964 sich immer als sehr traditionell und und ungewöhnlich präsentiert. Mit einer einzigen ausscherenden Ausnahme waren die Südeuropäer seltener Gast in den Top Ten, dennoch gelten deren Beiträge als besonderer Farbtupfer. Und in einem Fall sogar revolutionär. 1974 belegte Paulo de Carvalho mit drei weiteren Teilnehmern den letzten Platz in Brighton. Als drei Wochen nach dem Song Contest im portugiesischen Radio sein Beitrag „E Depois Do Adeus“ präsentiert wurde, war das für die Bevölkerung ein entscheidendes Signal, dass Putschisten im Land strategisch wichtige Teile im Land zu besetzen; die beginnende Nelkenrevolution bedeutete das Ende der jahrzehntelangen Diktatur des Landes.
Wer an Musik aus Portugal denkt, denkt zu aller erst an Fado. Dieser Musikstil, der im Ursprung geprägt ist von arabischen und keltischen Einflüssen, vermittelt unglückliche Lebensumstände mit Hoffnung auf bessere Zeiten. Für Freunde des Fado ist sie mehr als nur ein Kulturgut, für Nicht-Portugiesen ist der Sinn oftmals schwer vermittelbar. Die Harmonien in der Melodie, aber auch die wehmütigen Gesangsstimmen vermitteln ein Lebensgefühl. Reinen Fado allerdings gab es als portugiesischen ESC-Beitrag allenfalls nur angelegt. Carlos do Carmo kam 1976 in Den Haag mit „Uma Flor De Verde Pinho“ wohl am dichtesten an diese Musik heran, die seit einigen Jahren von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde.
Obwohl Portugal seit 1975 seine Beiträge freier und demokratischer auswählen kann, was neben den Songs auch die Präsentation angeht, zeigen sich traditionelle und landestypische Merkmale auch heute noch in vielen Liedern. In „Se Eu Te Pudesse Abracar“, mit dem Alma Lusa 1998 in Birmingham startete, ist unter anderem ein Dudelsack zu hören, was an dem Einfluß der Kelten auf der iberischen Halbinsel liegt. Der Song „Conquistador“ ,mit dem die Band Da Vinci 1989 ihr Glück in Lausanne versuchte, behandelt in den Strophen fast in Aufzählform die ehemaligen portugiesischen Kolonien. Neben weiteren Beiträgen waren die Hintergründe und die Bedeutungen der Lieder Inhalte von Vorträgen, die Dr. Wolther vorbereitet hatte, die in gemeinsamen und gemütlichen Unterhaltungen mündeten.
Ähnlich wie in Frankreich, im nördlichen Nachbarland leben viele Portugiesen, spielt sich das gemeinschaftliche Leben bei den Südeuropäern beim gemeinsamen Essen ab. Beim Hören der Musik und zusätzlich zu den Geschichten und der Geschichte des Landes genoss man das, was man sowohl als Vorspeise, aber auch als fortwährende Zwischenmahlzeit sehen kann. Überdimensional wirkende Linsen waren in Wirklichkeit die in Portugal üblichen Tremoςos, oder einfach Lupinenkerne. Als Einstieg gab es u. a. wahlweise Thunfisch- oder Sardinenpaste als Brotaufstrich. Weder hier, aber auch später beim Hauptgang durfte natürlich der auch hierzulande bekannte Portwein nicht fehlen.
Apropo Hauptgang – wie anfangs schon erwähnt, wurde die von den Gästen zubereitet. Das Rezept bekamen die Küchenmeister von Dr. Eurovision – auf portugiesisch. Mit der Vorfreude auf das gemeinsame Mahl wurde natürlich fleißig übersetzt – verbunden mit dem Hintergrund, weshalb diverse Nahrungsmittel eine Bedeutung in Portugal haben. Alle sechs anwesenden versammelten sich konzentriert und gut gelaunt in der Büroküche, um das Grundnahrungsmittel Portugals; Reis, warmzumachen, der später in einem gewürzten Tomatensud mit Koriander serviert wurde.
Als Beilage gab es frittierte Bohnen in Teig umhüllt, die man in Portugal unter Peixinhos De Horta erhält. Dazu gab es viele portugiesische ESC-Beiträge zu hören, oder auch Songs, die im Festival Da Cançäo antraten. Das Festival ist von Anfang an der portugiesische Vorentscheid für den Eurovision Song Contest. Das machte satt, und dennoch Appetit auf mehr, denn auch der Nachtisch wurde von den ESC-Fans zubereitet. Bei den kleinen Bejame Depresso handelt es sich um fruchtige, quarkähnliche Bällchen.
Was fehlt noch bei einem gemeinschaftlichen Abend voller Musik? Natürlich, es wurde gemeinsam gesungen. Hierbei wurde die Gesangsstimme nicht nur mit Portwein sicherheitshalber nachgeölt – jeder ging dabei tief in sich, ob die eigenen Kenntnisse der portugiesischen Sprache denn ausreichen. Der sechsköpfige Chor diente dabei als Background für den aller größten Wurf der portugiesischen Geschichte. Aber – hätte Salvador Sobral mit „Amar Pelos Dois“ 2017 auch mit der Verstärkung aus dem Phonos-Büro den Sieg in Kiew geholt? Es klang vielleicht ein wenig unharmonisch, aber es war zumindest musikalisch genauso ehrlich, wie es sich Sobral bei der damaligen Preisübergabe von der gesamten Musikbranche gewünscht hatte.
Ein schöner Abend, der viel zu schnell zu Ende ging, obwohl es schon tiefste Nacht in Hannover war. Dr. Irving Wolther sorgt seit Jahren für Ideen, mit der er den Eurovision Song Contest bei Musikfreunden auch außerhalb des Monats Mai aufrechterhält. Auch ESC And Eat wurde zu einem Erfolg für alle Beteiligten. Die Schlussfragen kamen: wann gibt es das nächste ESC And Eat, welches Land wird sich dann vorgenommen und gibt es irgendwann Portugal Teil 2? Auch wenn es Europa nicht immer gut geht – jeder ESC-Fan weiß auch, Europa ist ein wunderbarer und vielfältiger Kontinent. In der Nacht zum Tag Der Deutschen Einheit wussten das Andrea, Maja, Rona, Rene, der Herr Doktor sowieso – ach ja, und ich auch.