Es war eine kleine Mehrheit, aber genau die bringt seit dem 23. Juni 2016 die EU enorm aus dem Gleichgewicht. An diesem Tag sprachen sich knapp 52% der britischen Bevölkerung in einem Referendum gegen den Verbleib in der Europäischen Union und für einen Ausstieg aus. Damit votierten sie auch gegen den Euro als Zahlungsmittel auf der Insel. Das hat Konsequenzen, wirtschaftlich, und das nicht nur für Großbritannien. Am kommenden Freitag, dem 29. März 2019, wäre es soweit gewesen, dass das Vereinigte Königreich nach einem zweijährigen Verhandlungsperiode aus der EU ausgeschieden wäre. Skurrilerweise, am vergangenen Donnerstag, also 8 Tage vor dem brisanten Tag, einigte sich die britische Regierung unter Premierministerin Theresa May mit dem Europäischen Rat auf eine Verschiebung des Termins. Der Ausstieg soll nach dem Wunsch aller Beteiligten erst im Mai stattfinden. Ausgehandelt wurde darüber hinaus eine zweijährige Übergangsphase. In dieser Zeit bleibt Großbritannien Beitragszahler, verliert aber sein Stimm- und Mitspracherecht.
Vom 21. zum 22. März ist es ein kleiner Zeitensprung, von Großbritannien nach Kirchweyhe kilometermäßig gesehen ein definitiv großer Sprung. Dennoch hörten sowohl der Vorstand von Bethel im Norden sowie deren engagierten Schirmherren genau zu, und sind über den Zeitgewinn zumindest vorerst einmal erleichtert. Denn der Brexit und seine Folgen war auch das Gesprächsthema bei den eingeladenen Besuchern des Aktionstages, der am 22. März in allen Jugendwerkstätten in Niedersachsen stattfand. Unter anderem auch in Kirchweyhe. Dort leitet Petra Scholten genau diesen Betrieb, um insgesamt 16 jungen Menschen, die durch sozial schwierige Lebensweisen Probleme bei der Lebensgestaltung oder Arbeitssuche, eine Chance zu geben. Eine Chance, bei der andere Institutionen längst aufgegeben haben.
So diskutierten im Eingangsbereich, der an jenem Tag liebevoll mit Kaffee und anderen Getränken von den Jugendlichen und Mitarbeitern hergerichtet wurde, unter anderem Luise Turowski, die Geschäftsführerin von Bethel im Norden, die Botschafterin Dunja McAllister sowie die niedersächsischen CDU-Landtagsabegeordneten Volker Meyer und Marcel Scharrelmann über die möglichen Folgen und Konsequenzen, die der Brexit für Einrichtungen der Jugendhilfe haben könnte. Ein Unternehmen wie die Jugendwerkstatt wird hauptsächlich über die Mittel des Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert und getragen. Dieser Fond wird von allen EU-Ländern finanziert, damit besonders benachteiligte Gebiete aller EU-Länder mit ESF-Mittel gefördert werden können. Über eines dieser Förderprogramme läuft die Finanzierung von Einrichtungen der Jugendhilfe, die nun durch den Brexit ernsthaft gefährdet sind: Mit künftig geringeren Einnahmen ist eine geringere Unterstützungen zu befürchten.
Die Anwesenden waren sich schnell einig, dass die aktuelle Lage Luft zum Atmen bringt, aber eben nicht zum Durchatmen. Es muss schnellstmöglich eine Alternative her, denn, so Dunja McAllister, die Probleme durch gerinere Förderungen durch die ESF-Mittel haben die übrigen 27 EU-Staaten ebenso. Vor Ort lobten aber auch alle den Einsatz der Mitarbeiter im Jugendzentrum. Petra Scholten betonte, wie wichtig es sei, individuell am Problem der Jugendlichen zu arbeiten, pauschales oder allgemeines Vorgehen helfe dem Betroffenen überhaupt nicht.
Nach den öffentlichen Presseterminen hatten die Eingeladenen noch ordentlich zu tun. So mussten sie bei der Zubereitung des gemeinsamen Mittagessens mit anpacken. Unter den Augen von Sternekoch Volker Bassen, der zum Mitarbeiterstamm der Jugendwerkstatt gehört, aber auch unter der Wachsamkeit der Jugendlichen, halfen sowohl Politiker als auch die Bethel-im-Norden-Gäste beim Kochen. Die Küche selbst dient zur alltäglichen Versorgung der Jugendlichen und Mitarbeitenden, daneben ist sie aber auch als Lehrküche ausgelegt. Die Jugendlichen können hier durch ihre Arbeit einerseits hauswirtschaftliche Betriebsabläufe kennen lernen und werden daneben durch einen strukturierten Tagesablauf auf mögliche künftige Beschäftigungen am Arbeitsmarkt vorbereitet.
Jugendwerkstätten wie hier in Kirchweyhe können dabei auf jeden jungen Heranwachsenden die nötige Zeit für eine individuelle Betreuung nehmen. Das gilt genauso für die Holzwerkstatt, bei der unter Mithilfe von Annette Itzerott der Spaß an der Arbeit im Bereich Holzverarbeitung vermittelt werden kann.
Als es Mittag wurde, kam ein weiterer, zwar nicht eingeladener, aber ein sehr willkommener Gast zum Vorschein – die Sonne. Passend zum Frühlingsbeginn konnten Grill samt Spanferkel-Bräter unter freiem Himmel vor der Weyher Jugendwerkstatt aufgebaut werden. Neben der guten Sache kamen alle auf ihren Geschmack, sowohl beim Mittag als auch beim leckeren Nachtisch. Die Laune war angesichts der sich abzeichnenden Probleme zwar nicht überschwänglich, aber dennoch gut.
Wie man in so manchen Umfragen seit den Juni-Tagen 2016 mitbekommt, bereut der ein oder andere Brite sein damaliges Nein zur Europäischen Union. Was einmal als 29. März geplant war, soll nun der 22. Mai 2019 werden. Der Termin wurde bekanntlich gezielt verzögert. Ideal wäre eine weitere Verzögerung. Ideal wäre dazu, wenn man in London, in Glasgow oder in Birmingham nochmal genauer auf des Volkes Stimme hört. Und was spräche gegen ein zweites Referendum? Ein Referendum, unter der Überschrift „Wollt ihr das euch und uns wirklich antun?“. Aus der Emotion heraus darf man sich ja gerne irren, und zu einer Rückkehr oder Umkehr darf es niemals zu spät sein. Sollte sich der voreilige Irrtum der Briten als ein solcher herausstellen, käme eine erneute Befragung zuletzt allen billiger. Den Briten, den Europäern, sowie jenen, die helfen wollen. Wenn dadurch der Brexit verhindert würde, würde es vor allem helfen, die Hilfe brauchen.